Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen

Die erschossenen Zehn Gebote

Das Vorwort zur aktuellen Ausgabe

Man kam um sie zu töten.

Sie zu töten für Ihre Muttersprache, die sie nicht verleugnen wollten. Sie dafür zu töten, dass sie zu dem neuen Nationalismus „Nein“ gesagt haben. Sie letztlich dafür zu töten, dass sie einfach anders sind.

Die bastelten daraufhin aus einem Kipplaster einen Panzerwagen, fuhren ihn auf das hohe Dnjestr-Ufer. Auf die Seiten dieses merkwürdigen Kampffahrzeugs malten sie in riesigen weißen Lettern vier Worte: „Du sollst nicht töten!“

„Du sollst nicht töten“ ist die tragende Idee dieses Buches über den transnistrischen Krieg. Eine Idee, die mir die Verteidiger Transnistriens schenkten. Damals, als ich dieses Buch schrieb, und ganz gewiss auch dann, als ich in der Rolle eines Korrespondenten der „Literaturnaja Gazeta“ (Literatur-Zeitung) mich in den Gräben des transnistrisch-moldawischen Krieges wiederfand, habe ich vieles nicht verstanden. „Es scheint mir nur natürlich, dass der Hass der Liebe weichen müsste“, schrieb ich damals. „Aber ein Hass löste den anderen ab.“ Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts schien mir, die ideologische Unversöhnlichkeit der sowjetischen Epoche und des von ihr genährten Hasses müssten unweigerlich durch Respekt und Nächstenliebe abgelöst werden. Aber es erwies sich alles als sehr viel komplizierter. Und meine Illusionen aus dieser Zeit verglühten mit dem ausklingenden Jahrhundert.

Die Illusionen verglühten, aber die Fakten blieben. Der Krieg blieb. Es blieben die zerschossenen Städte. Es blieben die Friedhöfe. Und es blieben die Überlebenden, die sich an alles erinnerten und die weder vergessen wollen noch können. Das kann man nicht unter den Teppich kehren.

Ich beginne zu ahnen, dass dem Menschen etwas inne wohnt, was ihn zwingt, die Geschichte zu vergessen, die eigenen Verbrechen zu vergessen und neue zu begehen. Die transnistrischen Steppen und moldawischen Anhöhen erinnern sich noch gut an den deutschen und den rumänischen Nationalismus. Sie erinnern sich an die Massenbombardierungen, an die Erschießungen und die massenhafte Vernichtung von Menschen bestimmter Nationalitäten. Und genau dort, auf denselben Straßen, auf den Ufern desselben Dnjestr entbrannte im Sommer 1992 ein erneutes Gemetzel. Warum?

Wir wissen nicht, was in der Vorsehung g liegt. Vielleicht musste es so sein. Vielleicht kommt einfach die Zeit, in welcher der Mensch, obwohl er alles versteht, keine Kontrolle mehr über sich hat, und es zieht ihn unaufhaltsam zum Krieg, zur Zerstörung, zur Tötung Seinesgleichen. Die Ursachen sind dann nicht mehr so wichtig, weil dieser Drang absolut irrational ist.

Man muss übrigens nicht glauben, dass die Menschen alles in ihrer Gewalt hätten. Ein Mensch, der dabei ist, den Verstand zu verlieren, hat keine Gewalt mehr über sich selbst. „Wir leben in einer Zeit modernisierter Schamanen“, schrieb Grigorij Pomeranz im Nachwort zu diesem Buch, „die Fakten verwirren, verblüffen, bringen die Menschen auf die falsche Fährte und berauben sie ihres Gerechtigkeitssinnes. Sie möchten sich aber gerecht fühlen, möchten den modernen Leitsätzen folgen. Sie merken kaum, wie schnell diese Leitsätze wechseln, wie schnell die Bewertung ein und desselben Ereignisses,  ein und desselben Namens wechseln…“ Seit dieser Zeit erreichten die Technologien zur Steuerung der Massenmeinung eine solche Höhe, dass es schon unangebracht ist, von Schamanen, wenn auch modernisierten, zu sprechen. Eine Lawine konstruierter, sich gegenseitig ausschließender Information, zu deren kritischer Aufnahme  das menschliche Gehirn nicht imstande ist, macht die Menschen tatsächlich verrückt. Zumal die oben erwähnten Technologien bereits nicht nur die moralischen Maßstäbe schamlos manipulieren, sondern die ganze Grundlage der menschlichen Existenz.

Einmal in Paris, der damalige Krieg war schon vorbei, verirrten sich mein Bekannter und ich in ein russisches Restaurant. In Wirklichkeit stellte es sich dann als griechisch heraus, aber nicht deshalb blieb es mir in Erinnerung. In Erinnerung blieb es, weil an den Wänden des Restaurants zahlreiche Masken hingen. Masken nach jedem Geschmack. Der fürsorgliche Gastwirt funkelte uns mit einem Lächeln an und schlug vor, sich sofort in jemand anderen zu verwandeln. Zum Beispiel in einen Dakota-Indianer, einen bekannten Schauspieler oder einen einflussreichen Politiker. Viele machten das auch und die Betretenheit des Moments überwältigte sie. Da verstand ich, dass die Maske nicht nur zum Symbol sondern zum Wesen der modernen Welt geworden ist.

Die Welt ist nicht mehr die Welt, sie ist die Maske der Welt.

Statt der realen Welt bekommen wir eine Maske untergeschoben. Eine Maske der Religionen, eine Maske der Demokratie, die Maske des Patriotismus, die Maske eines Landes. Sogar eine Gottesmaske. Der moderne Nationalismus ist deshalb so schrecklich, weil er versucht, sich die Maske der Menschenliebe überzuziehen, die Maske der Legalität und der Demokratie. Viele aufrichtige, hilfsbereite und sogar intelligente Menschen werden später sagen, dass sie nichts geahnt, nichts vom Geschehen verstanden hätten. Muss man denn viel wissen, um endlich damit aufzuhören, das Töten von Menschen zu entschuldigen? Muss man viel wissen, um nicht zu stehlen und nicht zu lügen? Manchmal scheint es, dass die Menschheit abermals durch die Wüste schreitet. Aber nicht dorthin, wo aus dem brennenden Busch die Zehn Gebote erschienen, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Und sogar die Wüste ist eine andere.

Ja, es wird mit jedem Tag schwieriger, die Realität hinter den Masken zu erkennen. Aber es gibt sie doch, diese Realität! Und all die raffinierten Lügenanhäufungen, all die modernen Stereotypen der heutigen Konsumwelt zerfallen zu Staub, wenn man sieht, wie unbewaffnete Menschen auf  Maschinengewehre losgehen, nur um ihr Recht auf die eigene Muttersprache zu verteidigen! Um nach ihren Traditionen und ihrem Verständnis von Gut und Böse zu leben. Das ist irrational und unvernünftig, werden die Verfechter des globalen Liberalismus und der internationalen Massenkultur sagen. Vielleicht. Aber das ist die Realität. Das ist die echte Realität. Das ist genau die Realität, die heute niemand mehr respektiert. Aber es gibt sie. Sie zerfetzt jede Maske. Weil es nur menschlich ist, seiner menschlichen Natur treu zu bleiben.

Deshalb glaube ich, dass dieses Buch keinesfalls veraltet ist und aktuell bleiben wird. Schon deshalb, weil inmitten des zivilisierten und durch und durch demokratischen Europa nach wie vor ein kleiner, von niemandem anerkannter Staat Transnistrien mit seinen von niemandem anerkannten Bürgern um sein Überleben kämpft. Dieselben Menschen, die in ihrem Kampf mit dem Nationalismus ihre Vielvölkerkultur verteidigten.

Oder vielleicht noch deshalb, weil das vergossene menschliche Blut immer aktuell bleibt. Es hat kein Verfallsdatum. Egal, wie viel Zeit vergeht.

Jefim Berschin, 2014

Leseprobe:

I Am Anfang war die Zeit

Die Apokalypse beginnt in den Köpfen

Es krachte, vermutlich 20 Meter links von uns. Brocken aus Lehm und Schwarzerde beschrieben in der Luft einen komplizierten Bogen und ließen sich fächerartig auf den Schützengraben nieder. Sie schlugen dabei etwa fünf Soldaten und einen melancholischen älteren Hauptmann zu Boden. Dem Hauptmann war anzusehen, dass er schon länger keine ordentliche Uniform mehr trug. Kaum schüttelten wir die Erde ab und konnten uns umsehen, wie die Luft vom herzzerreißenden Pfeifen einer Mine zerrissen wurde – da haute sie direkt in den Schützengraben hinein, diesmal aber wesentlich weiter rechts. Nach dieser Explosion hörte ich zum ersten Mal, wie die Stille klirrt. Sie klirrte abgemessen und ruckartig, wie das Signal einer präzisen Zeit. Sie zählte die Minuten und Sekunden bis zur nächsten Explosion ab. Sie teilte unerbittlich mit, dass die nächste Explosion die letzte sein wird.

„Die Gabel!“ schrie plötzlich der Hauptmann: „Die Gabel!“

Weder ich, noch die jungen, von den Explosionen betäubten, Kerle der Landwehr verstanden irgendetwas. Dann versetzte der Hauptmann dem nächsten von ihnen einen Rippenstoß und schrie mit einer furchterregenden und heiseren Stimme: „Mir nach! … zum Teufel!“ und lief zu dem Platz, an dem gerade eben die Mine explodiert war.

Wir begriffen nichts, liefen im Graben hinter ihm her, stolperten und rissen uns die Seiten an den Erdausbuchtungen auf. Als wir bei dem Erdloch ankamen, stolperten wir unverzüglich übereinander hinein. Und just in diesem Moment erschütterte ein fürchterliches Gedröhne die vorderste Linie. Der Himmel entlud sich in Ballen von Erde und Lehm, die uns fast ganz begruben. Ich grub mich aus und hob den Kopf – über mir auf dem Erdaufwurf saß schon, schwer atmend, der Hauptmann.

„Vorbei, kommt raus, wir hatten Glück“, krächzte er und wischte sich den Dreck aus der von Erde geschwärzten Stirn. „Genau das ist eine Gabel, erst links, dann rechts – und dann aber genau ins Zentrum.“ Der Hauptmann zeigte mit dem Finger auf die Stelle, von der wir gerade hergelaufen waren.

Ich sah mich um. Von der Stelle, an der wir noch vor einigen zehn Sekunden standen, stieg eine Rauchsäule auf. Es war nicht schwer zu erraten, dass die Mine die Munitionskisten erwischt hatte.  Die leeren Kisten wurden von den Soldaten als Stühle, Tische und sogar als Betten benutzt. Im Schützengraben war alles gut genug für etwas Behaglichkeit. Jetzt brannten diese geölten Kisten und stießen pechschwarzen Rauch in die Luft. Ich begriff, dass dieser finstere und unrasierte Arbeiter, der vor langer Zeit wirklich ein Hauptmann war, uns das Leben gerettet hatte.

Ich fiel auf den Erdaufwurf, mit den Augen auf den inzwischen stillen Himmel gerichtet. Und dieser Himmel diktierte langsam:

„Zuerst war die Zeit. Wir hatten Zeit. Und die Zeit waren wir.

Wir flossen, wie der Dnjestr, bedächtig und erhaben, stolperten nur selten an den kleinen Wasserwirbeln, die sich als Kreisel in die Trichter einschraubten, die uns vom Gedächtnis über den Krieg blieben. Aber wir flossen gleichmäßig und ruhig, umschifften Gärten und Felder, umschifften Sandstrände und den wie immer durchsichtigen Kazaner Wald. Wir hatten Zeit. Und wir waren die Zeit.

Dann schwappten die Dnjestr-Gewässer die Zeit heraus, wie ein ungeliebtes Kind, auf die steile Küste des Dubassar-Ufers. Mit viel Mühe erreichte sie den steilen sandigen Abhang, schleppte sich weiter, blind und hilflos, wie die Stille vor der Explosion.

Dann die Explosion. Wir hatten eine Explosion. Wir wurden zur Explosion. Die Welt spiegelte sich in der explodierten Zeit, wie in einem zerborstenen Spiegel. Sie hörte auf Eins zu sein, weil die wegfliegenden Scherben die Bruchteile der sich in ihnen spiegelnden Welt in alle Richtungen trugen.“

„Ich verstehe das nicht“, wird später Mary am Telefon sagen, bevor sie sich auf die Reise wagt. „Das ist schön, aber ich verstehe das nicht. Was hat das mit Scherben zu tun? Warum denkst du, das alles schon explodiert ist, und wir fliegen in alle Richtungen? Ich empfinde es gar nicht so. Ihr Russen habt eine merkwürdige Beziehung zu der Welt, ihr denkt ständig an die Apokalypse. Frag doch mal einen Passanten an der Rhein-Promenade – so etwas fühlt er nicht. Die Welt ist nicht so, wie du dir sie vorstellst.“

„Aber vielleicht leben wir in unterschiedlichen Welten?“

„Ach, was sagst du da. Die Welt ist Eins. Es kann nicht ein Teil der Welt explodieren, und der andere Teil weiter existieren, als ob nichts wäre.“

„Ja, das ist treffend. Sie kann nicht. Aber sie existiert. Oder sie versucht zumindest zu existieren. Für einen Menschen ist das Denken wenn auch menschlich, so doch nicht wünschenswert. Schädlich. Es stört die etablierte Lebensordnung. Deshalb kommen alle Katastrophen unerwartet, plötzlich. Obwohl man unschwer darauf kommen kann, dass, wenn an einem Ende der Welt ein Feuer zu lodern beginnt, der Wind es ganz gewiss auch an das andere Ende tragen wird.

Die Welt ist nämlich wirklich Eins. So war es zumindest bis vor kurzem. Es spielt keine Rolle, wo die Apokalypse beginnt, an der Rhein-Promenade oder an dem Dnjestr-Ufer, wenn sie ohnehin zuallererst in den Köpfen der Menschen beginnt.“

Dikoe Pole, Wildes Feld
Jefim Berschin
Fiction
BoD – Books on Demand
30. September 2016
280
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