Die wirtschaftlichen Kosten des Russlandbildes

[von Dr. Christian Wipperfürth] Das Image Russlands ist, sagen wir, verbesserungsfähig. Welche Auswirkungen hat dies auf die russische Wirtschaft? Ich möchte mich nun einem Thema widmen, das in diesem Zusammenhang kaum diskutiert wird, aber von hoher Aussagekraft ist: Das Kurs-Gewinn-Verhältnis.

1. Was ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis?
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) (engl. Price-Earnings-Ratio (PER) oder P/E Ratio) bezeichnet die Relation zwischen dem Kurs einer einzelnen Aktie und dem Gewinn, den das Unternehmen pro Aktie bereits erzielt bzw. der für die Zukunft erwartet wird.

Ein Beispiel: Das Grundkapital einer Aktiengesellschaft ist auf 1 Million Aktien aufgeteilt. Eine Aktie des Unternehmens wird an der Börse mit 100 € bewertet. Das Unternehmen ist somit 100 Millionen € wert. Der Reingewinn des Unternehmens (also nach Steuern, Zinsen usw.) beträgt 10 Millionen €. Pro Aktie werden somit 10 € Gewinn erzielt. Da der Kurs 100 € beträgt, lautet das KGV 10.
KGV = Aktienkurs je Aktie : Reingewinn je Aktie.

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis ist ein sehr verbreiteter Maßstab, um zu messen, inwiefern eine einzelne Aktie – oder der Aktienmarkt eines Landes – als kostengünstig oder teuer einzustufen ist.

2. Wie steht hier Russland?
Die Aktien russischer Unternehmen sind im internationalen Vergleich außerordentlich niedrig bewertet. Das KGV der börsennotierten Unternehmen verschiedener Länder belief sich 2012 auf folgende Werte (1) Ukraine – 3,46 / Russland – 5,22 / Pakistan – 7,32 / Rumänien – 8,42 / Nigeria – 8,50 / Brasilien – 9,00 (nach anderen Angaben ist es sogar 11,20) / Ägypten – 9,60 / Türkei – 10,08 / China – 10,48 / Norwegen – 10,90 / Italien – 11,11 / Deutschland – 11,28 / Kanada – 13,30 / USA – 13,73 / Südafrika – 14,07 / Indien – 14,72 / Australien – 15,20

Der Anteil Russlands am Wert aller weltweit an Börsen gelisteten Unternehmen beträgt darum lediglich 1,7%, der Anteil Brasiliens liegt bei 2,3%, derjenige Indiens bei 2,4%.(2)
In den vergangenen Jahren gab es tendenziell eher eine Vergrößerung der Differenz des KGV russischer Unternehmen zu derjenigen aus Aktiengesellschaften anderer Länder.

3. Die Auswirkungen des niedrigen KGV russischer Aktien aus russischer Sicht
Die Auswirkungen sind gravierend und vielfältig, zwei seien genannt:

Fall 1:
Ein russisches Unternehmen geht an die Börse. Oder eine bereits an der Börse gelistete Aktiengesellschaft beschafft sich durch die Ausgabe weiterer Aktien neues Kapital. Oder etwa der russische Staat privatisiert ein Unternehmen, indem (ein Teil) der bislang in staatlichem Besitz befindlichen Aktien an der Börse platziert wird:
In diesem Fall wird der Anbieter für die Aktien russischer Unternehmen deutlich weniger erhalten als ein an der Börse notierter Konkurrent aus den allermeisten anderen Ländern bekäme.

Gehen wir von folgendem Beispiel aus: In einem Jahr werden Aktien russischer Unternehmen an die Börse gebracht, für die 20 Milliarden Euro erzielt werden. (Dies ist eine zurückhaltende Annahme. Die Marktkapitalisierung der an der Moskauer Börse gelisteten Unternehmen betrug nach Angaben der Weltbank Ende 2012 875 Milliarden US-Dollar. Dies waren 42,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.)
Nigerianische Emittenten würden nicht 20 Milliarden Euro erzielen, sondern über 30 Milliarden, ägyptische etwa 38 Milliarden, türkische etwa 39 Milliarden, chinesische 40 Milliarden, brasilianische (in Anbetracht der unterschiedlichen Angaben) etwa 35 bzw. 42 Milliarden, südafrikanische über 50 Milliarden und indische fast 60 Milliarden. (Ich stütze mich bei dieser Rechnung auf die unter 2. stehenden KGV-Angaben.)
Es kann als sicher gelten, dass russischen Unternehmen bzw. dem russischen Staat jährlich Einnahmen in Höhe eines zweistelligen Euro-Milliardenbetrags entgehen. Dies ist ein Betrag, der volkswirtschaftlich relevant ist. Er schränkt die Ausgabetätigkeit (v.a. die Investitionsfähigkeit) der Unternehmen und des Staats ein.

Fall 2:
Ein russisches Aktienunternehmen wünscht einen Kredit. Oder etwa Privatpersonen oder Unternehmen, die über Aktien verfügen, wollen einen Kredit aufnehmen und hierfür die Aktien als Sicherheit hinterlegen.

Das russische Unternehmen bzw. russische Aktien werden niedriger bewertet als diejenigen von Konkurrenzunternehmen aus anderen Ländern. Der Wert der Sicherheiten ist somit niedriger. Somit kann ein russisches Unternehmen (oder etwa eine Privatperson, die russische Aktien als Sicherheit hinterlegen kann) weniger Kredit aufnehmen als dies bei einem höheren KGV möglich wäre. Oder der Kreditnehmer fällt in eine höhere Risikoklasse, muss also einen höheren Zinssatz zahlen. (2)

Die Kreditfähigkeit russischer Unternehmen ist im Vergleich zu der von Mitbewerbern eingeschränkt. Vermutlich werden Kredite in Höhe eines zweistelligen Milliardenbetrags jährlich darum nicht aufgenommen werden können. Zudem werden russische Aktiengesellschaften für bereits aufgenommene Kredite einen höheren Zinssatz entrichten müssen als Konkurrenten.
Die Investitionsfähigkeit russischer Unternehmen ist somit relevant beeinträchtigt. Das schlechte Image kostet den Bürgern und Unternehmen sowie dem Staat jährlich folglich einen hohen zweistelligen Euro-Millardenbetrag.

4. Warum sind russische Aktien derart niedrig bewertet?
Ich sehe bei der folgenden Untersuchung von einzelnen Unternehmen ab, etwa von Gazprom, das durch den Druck auf den Gaspreis deutlich niedriger bewertet ist als noch vor wenigen Jahren. Ich behandele auch nicht aktuelle Fragen, wie etwa die gegenwärtige Wachstumsschwäche Russlands. Sondern ich konzentriere mich auf die Tatsache, dass russische Unternehmen bereits seit vielen Jahren ein ungewöhnlich niedriges KGV aufweisen.

Wenn sich Ökonomen und Kommentatoren mit dem Thema des niedrigen KGV russischer Unternehmen beschäftigen, lässt sich ihre Kernüberlegung folgendermaßen zusammenfassen: Die Wettbewerbsposition russischer Unternehmen und die Dynamik der Volkswirtschaft würden sich deutlich erhöhen, wenn in- und ausländische Investoren auf Rechtssicherheit bauen könnten, wenn Russland glaubhaft zum Rechtsstaat würde.

Diese Erklärung ist zutreffend, aber sie ist nicht hinreichend. Denn wer wollte ernsthaft behaupten, dass etwa Ägypten und China (sehr deutlich) rechtsstaatlicher als Russland wären? Immerhin werden in diesen beiden genannten Staaten Unternehmen mit einem etwa doppelt so hohen KGV bewertet.

Russland steht in der aktuellen „Doing Business-Studie“ der Weltbank vor Brasilien und Indien, aber die Unternehmen in den genannten beiden Ländern werden deutlich höher bewertet. Russland weist zudem recht günstige volkswirtschaftliche Daten auf: einen etwa ausgeglichenen Staatshaushalt, einen Handelsüberschuss, die Inflation ist unter Kontrolle, die öffentliche Hand sowie Privatunternehmen und –personen sind nur moderat verschuldet.

Quellen:
(1) http://www.welt.de/finanzen/article115052823/Internationale-Anleger-pfeifen-auf-die-russische-Boerse.html; http://www.themoscowtimes.com/opinion/article/what-russia-must-do-to-become-a-normal-nation/479064.html?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed:%20themoscowtimes/RUXi%20%28The%20Moscow%20Times%29
(2) http://www.factfish.com/de/statistik-land/indien/marktkapitalisierung+von+gelisteten+unternehmen. Auf dieser Webseite finden sich auch die Angaben zu Russland und Brasilien.

[russland.RU]

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