Die Ukraine vor ihrem blutigen Zerfall

[Von Dr. Christian Wipperfürth] Der Krieg könnte in einigen Tagen, Wochen oder Monaten beginnen. Wenn die Entwicklung so verläuft wie in den vergangenen Monaten ist er unabwendbar.

Der Kreml besitzt drei Ziele, von denen er nicht abrücken wird:

  1. Es soll dauerhaft gesichert sein, dass die Ukraine der NATO nicht beitritt.
  2. Die russische Sprache soll einen gesicherten offiziellen Status erhalten, möglichst im gesamten Land.
  3. Die Ukraine soll föderalisiert werden, damit der „russlandfreundliche“ Teil auf Dauer Einfluss auf die Politik Kiews ausüben kann.

Werden diese Positionen von Millionen Ukrainern geteilt, oder will Moskau seinem Nachbarn lediglich den eigenen Willen aufzwingen?

Ende 2011 besaß nur gut ein Drittel der Bevölkerung ein positives Bild von der  NATO, ein geringerer Prozentsatz als in Russland.

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Andere Umfragen kamen in den Jahren zuvor und danach zu ähnlichen Ergebnissen. Die politischen Ansichten von Millionen Ukrainern haben sich in den vergangenen Monaten jedoch verändert. Nunmehr kommen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass sich erstmals eine knappe Mehrheit für einen NATO-Beitritt aussprechen würde, fast die Hälfte der Bevölkerung lehnt ihn aber nach wie vor ab. Eine NATO-Mitgliedschaft bleibt innerhalb der Ukraine zumindest sehr umstritten.

Hinsichtlich der russischen Sprache bot sich nach den Angaben des US-Meinungsforschungsinstituts „Pew“ im April 2014 folgendes Bild:

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Im Mai wurde eine weitere Untersuchung durchgeführt:

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Die Aufschlüsselung der Regionen ist der folgenden Abbildung zu entnehmen

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Die Ergebnisse der beiden Umfragen vom Frühjahr ähneln sich. In der gesamten Ukraine gibt es eine deutliche Mehrheit dafür, dass Russisch einen offiziellen Status besitzen sollte. Im Westen des Landes hingegen wollen etwa zwei Drittel nur dem Ukrainischen einen offiziellen Status zugestehen, im Osten jedoch forderte eine deutliche, teils überwältigende Mehrheit, dass Russisch diesen erhalten bzw. behalten sollte.

Die Regionen besitzen seit 2012 bereits die Möglichkeit, einer weiteren Sprache neben dem Ukrainischen regional einen offiziellen Status zu verleihen. Dies stieß auf den erbitterten Widerstand derjenigen Parteien, die ihre Hochburgen im Westen des Landes besitzen. Unmittelbar nach ihrem Machtantritt am 22. Februar 2014 kündigte die neue Führung an, die sprachlichen Autonomierechte aufzuheben. Sie nahm von diesem Vorhaben zwar Abstand, im Osten und Süden des Landes wird jedoch weithin gemutmaßt, dass maßgebliche Kräfte in Kiew nur auf die Gelegenheit warten, ihren Plan durchzusetzen.

Russland hat „russlandfreundliche“ Kräfte nach dem Machtwechsel Ende Februar massiv zu Widerstand ermutigt. Der Kreml trägt eine erhebliche Mitschuld an der Eskalation. Moskau unterstützt die Rebellen diplomatisch und indirekt beispielsweise durch Waffenlieferungen. Die wiederholten Berichte über eine russische „Invasion“ oder auch nur eine quantitativ relevante Beteiligung russischer Soldaten an den Kampfhandlungen in der Ostukraine entbehren jedoch der Grundlage. (S. z.B. http://www.cwipperfuerth.de/2014/08/ende-august-kiew-in-der-defensive/;

http://www.cwipperfuerth.de/2014/09/steinmeier-widerspricht-der-ukraine-vor-der-uno/)

Steinmeier vor UN und Ende August) Die Rebellion besitzt eine nennenswerte Unterstützung in der Bevölkerung. In der Westukraine haben sich seit dem Winter patriotisch-ukrainische Stimmungen verstärkt, im Osten hingegen der Widerstand dagegen.

Die Ukraine kann nur zusammengehalten werden, wenn die Kiewer Führung ihren nationalen Eifer erheblich mäßigt und ein Kompromiss geschlossen wird, der den Interessen von Millionen Menschen im Osten und Süden der Ukraine Rechnung trägt. Danach sieht es nicht aus. Dabei haben die ukrainischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen das Misstrauen, die Distanz, womöglich sogar die Feindseligkeit eines erheblichen Teils der Bevölkerung im Osten und Süden gegenüber Kiew deutlich gezeigt. (S. http://www.cwipperfuerth.de/2014/11/die-gespaltene-ukraine-eine-analyse-der-ukrainischen-wahlen/)

Es mehren sich die Indizien, dass nicht nur eine zumindest nennenswerte Minderheit im Südosten eine Abspaltung fordert. Dies scheint zunehmend auch die russische Position zu werden, da es keine Aussichten gibt, einen Kompromiss zu erzielen, der etwa eine Föderalisierung der Ukraine beinhalten müsste.

Zudem ist die wirtschaftliche und soziale Lage in den Rebellengebieten und in der Ukraine selbst so katastrophal, dass die eine oder andere Seite versucht sein dürfte, die Waffen sprechen zu lassen.

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Es gibt drei Varianten:

  1. Der Westen setzt die Kiewer Führung finanziell und militärisch instand, die Rebellion im Osten sowohl gewaltsam einzuhegen als auch eine glaubwürdige Zukunftsperspektive bieten zu können. Dies würde nicht nur Kredite erfordern, wie bislang, sondern nicht zurückzuzahlende Mittel. Es müsste sich im Verlauf einiger Jahre um einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag handeln, womöglich gar mehr.
  2. Kiew, die Rebellen, der Westen und Russland schließen einen Kompromiss –nach dem es nicht aussieht. Dieser liefe darauf hinaus, dass der Westen und Russland die Ukraine gemeinsam stabilisieren.
  3. Der Krieg. Er droht noch weit blutiger zu werden als der Waffengang im Sommer, dem über 4.000 Menschen zum Opfer fielen.

Die Grenzen des Staates „Noworossija“, der in den kommenden Monaten vermutlich entstehen wird, können wir erahnen. Sie werden in nordost-südwestlicher Richtung verlaufen (und das auf den Abbildungen blau markierte Gebiet umfassen), ähnlich der Spaltung der Ukraine bei den Wahlen in den vergangenen 20 Jahren.

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Die Ukraine droht in einer Katastrophe zu versinken. Die Konsequenzen für die westlich-russischen Beziehungen – und auch für das innenpolitische Klima in Russland – mag man sich nicht ausmalen.

Bin ich zu pessimistisch? Ich hoffe es, aber ich fürchte, realistisch zu sein.

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