Die Türklinkentheorie als Schwachstelle im Skripal-Fall

Die Türklinkentheorie als Schwachstelle im Skripal-Fall

[von Bernd Murawski] Um gängige Theorien zu aktuellen Ereignissen zu widerlegen, werden oft Spezialkenntnisse benötigt und müssen Fakten geprüft werden. Im Skripal-Fall reicht kriminalistischer Spürsinn.

Die Vergiftung der Skripals ist nicht das erste Ereignis mit enormen politischen Implikationen, dessen offizielle Version erhebliche Schwachstellen aufweist. Die Medien hätten als „vierte Gewalt“ den Auftrag, diese aufzudecken. Anstatt aber offizielle Narrative kritisch zu hinterfragen, betrachten es Vertreter des Mainstream als ihre Aufgabe, zu deren Verbreitung beizutragen. Währenddessen werden abweichende Positionen und ihre Anhänger in Nischen gedrängt und verunglimpft. Die Regie erfolgt jeweils nach dem gleichen Drehbuch:

  1. Auswahl geeignet erscheinender Fakten, ergänzt durch zweckdienliche Vermutungen und Interpretationen
  2. Schuldzuweisung und Konstruktion eines Bedrohungsszenariums
  3. Forderung nach Bestrafung der Schuldigen durch Ächtung, Sanktionen und Militärschläge
  4. Verschweigen und Unterdrückung von unbequemen Fakten und Widersprüchen
  5. partielle Akzeptanz von Einwänden sowie das Eingeständnis, dass auch andere Deutungen der Ereignisse möglich seien.

Der Eintritt in die letzte Phase geschieht meist nach einem längeren Zeitintervall, oftmals erst Jahrzehnte später unter der Ägide von Historikern. Das öffentliche Interesse ist dann meist abgeebbt, eine Thematisierung durch die Medien erscheint nicht mehr opportun. Der Schuldspruch wurde frühzeitig gefällt und hat sich tief im Bewusstsein der Medienkonsumenten wie auch der Redakteure festgesetzt. Eine Revision würde ein erhebliches Stück Arbeit bedeuten, wenn sie überhaupt gewollt wäre.

Die Kritik an offiziellen Theorien fokussiert sich auf deren Schwachpunkte. Um diese zu identifizieren und qualifizierte Gegenargumente vorzubringen, wird häufig ein spezielles Fachwissen verlangt. In manchen Fällen muss die Möglichkeit bestehen, Fakten zu überprüfen. Da dem Normalbürger diese Voraussetzungen fehlen und er ebenso wenig bereit ist, einer kritischen Minorität zu vertrauen, setzen sich alternative Sichtweisen allgemein nicht durch. Dieses Problem soll im Folgenden anhand von vier Ereignissen dieses Jahrhunderts illustriert werden, bevor auf die Andersartigkeit des Skripal-Falls eingegangen wird.

Vier Schlüsselereignisse dieses Jahrhunderts 

Nach offizieller Lesart kaperten vor 17 Jahren 19 islamische Terroristen mit Teppichmessern ausgerüstet vier Flugzeuge, sie lenkten zwei davon in das WTC und eins in das Pentagon. Als Achillesferse erwies sich bald der Kollaps des WTC 7. Dieses Gebäude, das ungefähr halb so hoch wie die Zwillingstürme war, sackte symmetrisch und nahezu mit Fallgeschwindigkeit in sich zusammen. Zweifel wurden dadurch verstärkt, dass niemals zuvor ein Stahlskelettbau infolge eines Bürobrands eingestürzt ist. Zwar wurde der ursprüngliche Bericht im Jahr 2008 revidiert, doch konnten die 3000 Ingenieure und Architekten der „Truther“-Bewegung nicht überzeugt werden. Derweil war es für den Normalbürger angesichts fehlender Fachkenntnisse schwierig, in diesem „Streit unter Experten“ Position zu beziehen.

Gab es im Irak Produktionsstätten für Massenvernichtungswaffen, sodass die Invasion durch die „Koalition der Willigen“ im Jahr 2003 gerechtfertigt war? Die Antwort ist heute bekannt, allerdings gelang es zu jener Zeit nicht, das vom damaligen US-Außenminister Colin Powell dem UN-Sicherheitsrat vorgelegte Material als Fälschung nachzuweisen. Da sich eine breite Front unter Einschluss führender westlicher Staaten gegen die völkerrechtswidrige Militäraktion wandte, konnte poltischer Druck erzeugt werden. Die Regierungen der Aggressor-Staaten wurden gezwungen, Beweise zu präsentieren, was ihnen nicht gelang. Schließlich erklärten sie, von ihren Geheimdiensten getäuscht worden zu sein.

Weiterhin umstritten ist die westliche Theorie zum Abschuss der Passagiermaschine MH17 im Jahr 2014. Er soll durch eine Buk-Anlage erfolgt sein, die Russland an die ostukrainischen  Separatisten lieferte. Die Schuldzuweisung trug wesentlich dazu bei, den Widerstand innerhalb der EU gegen eine Verschärfung der Russland-Sanktionen zu brechen. Die Achillesferse der offiziellen Version bilden die fehlenden Zeugen, die es wegen des von Experten beschriebenen höllischen Lärms und minutenlang sichtbaren Kondensstreifens eines Buk-Abschusses eigentlich geben müsste. Hier wie erst recht bei konträren Ansichten zu technischen Fragen werden für eine Urteilsbildung Faktenwissen und Spezialkenntnisse verlangt, über die ein Laie nicht verfügt. Aus seinem Blickwinkel steht Aussage gegen Aussage.

Ein heute noch aktuelles Narrativ ist das vom „Schlächter“ Baschar al Assad, der sein eigenes Volk bombardiert und wiederholt Giftgas eingesetzt habe. Dessen gravierendste Schwachstelle bilden die obskuren Informationsquellen. Um dies zu kaschieren, werden islamische Terroristen als Rebellen verharmlost und mit ihnen kooperierende Organisationen wie die „Weißhelme“ zum Zivilschutz erklärt. Was sich tatsächlich in Syrien ereignet, bleibt dem Nachrichtenkonsumenten weitgehend verborgen. Indem westliche Regierungen und Leitmedien geschlossen auftreten, erhalten ihre Berichte eine hohe Glaubwürdigkeit. Unbequeme Fakten und Meinungen lassen sich effektiver unterdrücken als während des Irak-Kriegs.

Kompetenzmangel und unzureichende Faktenkenntnisse

Dass sich kritische Ansichten gegen Mainstream-Positionen nicht behaupten können, ist nur selten einem Mangel an Faktenwissen und Fachkompetenz geschuldet. Vielmehr sehen sich „Querdenker“ damit konfrontiert, dass das Medienpublikum in Situationen, wo Aussage gegen Aussage steht, eher offiziellen Stellen und „bewährten Quellen“ glaubt. Ohne die klare Positionierung einflussreicher westlicher Politiker und Medien wäre die von den Regierungen Bush und Blair verbreitete Lüge irakischer Massenvernichtungswaffen nicht in das allgemeine Bewusstsein gedrungen. Der einzelne Bürger kann indes nicht den Wahrheitsgehalt von Nachrichten prüfen.

Ebenso schwierig ist für ihn, die Korrektheit von Expertisen zu beurteilen: Müssen Sprengsätze gezündet werden, um Stahlskelettbauten zum Einsturz zu bringen? Handelte es sich bei den Gebäudekomplexen auf dem CIA-Bildmaterial um irakische Chemiewaffenfabriken? Hätte die MH17 nach dem Auftreffen einer BUK-Rakete infolge von Reibungshitze brennen müssen? Stammten die Sarin-Proben von den angegebenen Orten, wurden die Behälter aus der Luft abgeworfen?

Wenn jemand außerstande ist, korrekte Antworten zu geben, dann folgt daraus nicht zwangsläufig, dass er die offizielle Position übernimmt. Er könnte argwöhnen, dass Politiker und Medien eigenen Interessen und nicht dem Wahrheitspostulat folgen. Bei einer zu großen Kluft zwischen tatsächlichem Sachverhalt und Interessenkalkül wächst die Skepsis und mit ihr die Distanz zu den Herrschenden. Schwindendes Vertrauen in die politische Führungsriege artikuliert sich bei Wahlen, indem Protest- und Randparteien ihren Stimmenanteil erhöhen und zugleich die Wahlbeteiligung sinkt. Da es diesen Trend in fast allen westlichen Staaten tatsächlich gibt, ließe sich schlussfolgern, dass offizielle Theorien an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben.

Dennoch gelingt es nur marginal, unzufriedene Bürger für alternative Sichtweisen zu gewinnen. Wer desillusioniert ist, zieht sich eher zurück, da sich Widerstand scheinbar nicht lohnt und Angst besteht, sich sozial zu isolieren und persönliche Nachteile zu erleiden. Der moralischen Rechtfertigung dient das Argument unzureichenden Beurteilungsvermögens, das gleichsam gegen kritische Positionen vorgebracht wird. Ein Neuaufrollen von längst abgehakten Fällen wird allgemein als lästig empfunden.

Die Türklinkentheorie als Kernstück der offiziellen Skripal-Version

Der Skripal-Fall unterscheidet sich von den bislang betrachteten Ereignissen darin, dass für ein kritisches Hinterfragen nur sehr beschränkt Spezialkenntnisse erforderlich sind. Stattdessen wird kriminalistisches Gespür verlangt, zu dem jeder prinzipiell fähig sein dürfte. Hierbei sollte an den Schwachstellen der offiziellen Version angesetzt werden. Russische Vertreter haben sich hingegen darauf beschränkt, auf Vorwürfe zu reagieren. Sie ließen zu, dass der Fokus auf Nebenaspekte gerichtet war. Dadurch gelang es nach Sichtweise des ehemaligen FSB-Mitarbeiters Andrej Manoilo den britischen Behörden, Russland in die Enge treiben. Anstatt Widersprüche und Ungereimtheiten aufzudecken, hätte sich die russische Seite mehrere Pannen geleistet.

Als zentrale Hypothese der offiziellen Theorie erweist sich die Präparierung der Türklinke von Sergej Skripals Haus mit Nowitschok. Sie ist zugleich das schwächste Glied in der Indizienkette. Ohne diese Annahme kann der Verdacht gegen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow nicht aufrecht erhalten werden. Die Nowitschok-Spuren in ihrem Londoner Hotelzimmer würden sich als falsche Fährte erweisen. Die schwer begreiflichen Lücken in den Zeitleisten der Skripals und der Tatverdächtigen wie auch die Veränderung und das Verschwinden von Fakten in der letzten Polizeiversion dürften in einem anderen Licht erscheinen. Es würde sich der Eindruck verhärten, dass gezielt Spuren gelegt und Informationen unterschlagen wurden.

Etwaige Zweifel an einer unvoreingenommenen Untersuchung werden durch den guten Ruf der britischen Polizei verdrängt. Obwohl die Metropolitan Police formell die Verantwortung trägt, dürfte aber der britische Geheimdienst einen beträchtlichen Einfluss auf den Fortgang der Ermittlungen haben. Dafür spricht, dass Sergej Skripal seit seiner Freilassung im Jahr 2010 für den MI6 tätig war. In diese Richtung weisen ebenfalls personelle Entscheidungen: Einen Tag nach der Vergiftung der Skripals wurde Neil Basu zum Chef der Anti-Terror-Polizei in London ernannt und hat Kier Pritchard die Leitung der Polizeibehörde der Grafschaft Wiltshire übernommen, sodass beide zentrale Positionen bei den aktuellen Ermittlungen bekleiden. Zuvor befassten sie sich nicht nur mit kriminalistischen, sondern auch mit geheimdienstlichen Aufgaben.

Die Türklinkentheorie wurde am 28. März aufgestellt, nachdem Skripals Haus eine Woche lang von Spezialkräften untersucht wurde. Dort sei die höchste Konzentration von Nowitschok festgestellt worden. Einige Tage zuvor, zwischen dem 21. und 23. März, hatte sich das OPCW-Team in Salisbury aufgehalten und Proben genommen. Seit der Vergiftung der Skipals am 4. März waren zweieinhalb Wochen vergangen, sodass genügend Zeit bestanden hätte, falsche Spuren zu legen. Dass britischen Geheimdienstkreisen eine False-Flag-Aktion zuzutrauen ist, wird durch die vom US-Senator Richard Black vor einigen Monaten erhobenen Vorwürfe bestärkt, der MI6 hätte in Kooperation mit den „Weißhelmen“ einen fingierten Giftgasanschlag in Idlib geplant.

Bei einer Präparierung der Fundorte müsste die für die Laboranalysen verantwortliche Forschungsstation Porton Down involviert gewesen sein, ebenso bei einer Manipulation von Proben. Dazu würde ein enger Kreis von Eingeweihten ausreichen, dessen Tätigkeit durch höhere Instanzen gedeckt wird. Ein solcher Verdacht ist nicht abwegig, da Porton Down als Zentrum der Chemie- und Biowaffenforschung dem britischen Verteidigungsministerium untersteht. Dessen oberster Dienstherr Gavin Williamson hat sich wiederholt mit russlandfeindlichen Äußerungen hervorgetan.

Die hier geäußerte Mutmaßung wird durch eine anonyme Quelle gestützt, wonach der BND den britischen Geheimdienst intern als Urheber für den Giftanschlag betrachten würde. Diese Information mag zutreffen, sie reicht jedoch nicht als Beleg. Dagegen würde eine Widerlegung der Türklinkentheorie die offizielle Version zu Fall bringen und damit ihre Urheber bloßstellen. Deren zentrale Bestandteile bilden die folgenden Behauptungen:

  1. Die Skripals wurden durch Nowitschok vergiftet.
  2. Die Infizierung erfolgte durch Berührung der Türklinke von Sergej Skripals Haus.

Die erste Annahme gründet sich auf die Laborergebnisse von Porton Down. Da die Proben nicht von einer neutralen Instanz analysiert werden können und die genauen Symptome der Opfer nicht bekannt sind, lässt sich keine alternative Expertise erstellen. Dem Laien fehlen zudem die für eine Beurteilung notwendigen Kenntnisse der Medizin und der Toxikologie. Dennoch lassen sich gewisse Ungereimtheiten konstatieren, die zum einen aus der anfänglichen Diagnose einer Fentanyl-Vergiftung und zum anderen aus dem bekannten Wissen über Nowitschok resultieren.

Für die Beurteilung der zweiten Annahme, die Skripals hätten sich durch Berühren der Türklinke infiziert, bedarf es keiner zusätzlichen Kenntnisse. Um sie als höchst unwahrscheinlich klassifizieren zu können, reichen Plausibilitätsüberlegungen.

Fentanyl oder Nowitschok?

Die Ärzte des Krankenhauses von Salisbury hatten anfangs den Verdacht, dass Sergej und Julia Skripal einer hohen Dosis des Opioids Fentanyl ausgesetzt waren. Die Verfassung beider wurde als kritisch beurteilt, während bis zu zehn weitere Personen geringfügig infiziert worden seien.

Fentanyl wird als Schmerzmittel eingesetzt, es kann aber in einer Überdosis Gehirnschäden verursachen und sogar wie im Fall des Pop-Sängers Prince zum Tod führen. Zu den Wirkungen äußert sich „Deximed“ folgendermaßen:

„Symptome einer Opioidvergiftung sind beeinträchtigtes Bewusstsein, Kreislaufstörungen und verengte Pupillen. Der Puls verlangsamt sich und die Atmung wird geschwächt, in einigen Fällen kann es zu Herzstillstand oder Atemstillstand kommen. Blaue Nägel und blaue Lippen sind auf eine unzureichende Sauerstoffzufuhr im Blut zurückzuführen. Andere mögliche Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Lungenödem und Krämpfe.“

Über die Behandlung durch die Krankenhausärzte wurde wenig bekannt, jedoch kann angenommen werden, dass sie sich an allgemeinen Therapieempfehlungen orientierten. Hauptziele sind die Erhaltung lebenswichtiger Vitalfunktionen wie Atmung und Kreislauf, die Senkung des Vergiftungsgrades und die Verkürzung der Wirkungsdauer. Als Gegenmittel wird normalerweise Naloxon verabreicht.

Erst als die Polizei angesichts des Hintergrunds von Sergej Skripal einen Attentatsversuch vermutete, wurden andere Vergiftungsursachen in Erwägung gezogen. Am 7. März wurde offiziell verlautbart, dass ein Nervengift eingesetzt worden und dessen Substanz bekannt sei. Wie die Opfer daraufhin behandelt wurden, ist nicht mitgeteilt worden, obwohl ein BBC-Bericht mit der Schlagzeile „How the Skripals were saved“ einen konträren Eindruck suggerierte. Es wurden lediglich Maßnahmen geschildert, die gewöhnlich bei Vergiftungserscheinungen unternommen werden. Die Fachärzte zeigten sich recht erstaunt darüber, dass die Skripals überlebten und offenbar keine signifikanten Schäden davontrugen.

Dass die Ärzte äußerst besorgt waren, wird durch die bei „Spektrum“ beschriebene Wirkungsweise des Nowitschoks nachvollziehbar:

„Die Wirkung der Nowitschok-Stoffe gleicht jener der anderen Nervengase. Sie blockieren das Enzym Acetylcholinesterase, das den Botenstoff Acetylcholin abbaut. Dadurch sammelt sich in den Synapsen des Nervensystems und an der motorischen Endplatte, die Nervenimpulse auf die Muskeln überträgt, der Signalstoff an – das System bleibt im Erregungszustand, die Kommunikation zwischen seinen Bestandteilen ist unterbrochen. Die Vergiftung verursacht Muskelkrämpfe, starke Schmerzen und neurologische Störungen, die epileptischen Anfällen ähneln; die Opfer sterben schließlich an Atemlähmung.“

Bei „Wikipedia“ wird darauf hingewiesen, dass der durch das Nervengift Nowitschok verursachte Prozess irreversibel ist. Weiter heißt es: „Die Opfer sterben durch die Hemmung der Atmung und des Herzmuskels. Typische Symptome sind Schaum vor dem Mund, starke Sekretbildung, Erbrechen und allgemeiner Verlust aller Muskelfunktionen.“ Anders als bei Fentanyl findet sich keine Erwähnung eines Gegenmittels.

Wegen der durchschlagenden Wirkung des Nowitschoks dürfte die wundersame Heilung der Skripals nicht einmal durch die Annahme erklärbar sein, es könnte sich um eine stark verdünnte bzw. mit anderen Bestandteilen versetzte Form des Giftstoffs gehandelt haben. Dem widerspricht zudem der Befund der OPCW, die in den untersuchten Proben einen hohen Reinheitsgehalt des Nervengifts feststellte. Überdies vergingen zwei Tage, ehe die Behandlung der Opfer auf der Basis einer durch Nowitschok verursachten Vergiftung einsetzte.

Wenig glaubwürdige offizielle Erklärungen

Dem Normalbürger fehlen sowohl Faktenwissen als auch medizinische und toxikologische Kenntnisse, um über die Art und Schwere der Vergiftung urteilen zu können. Allerdings dürfte ihn stutzig machen, dass die Skripals überlebten und offenbar wohlauf sind, obwohl bislang angenommen wurde, Nowitschok würde als eines der stärksten Nervengifte innerhalb kurzer Zeit zum Tod führen. Erste Zweifel dürften also geweckt worden sein. Für das Hinterfragen der zweiten Behauptung, die Infizierung sei durch Berühren der Türklinke erfolgt, bedarf es keiner Fachkenntnisse, sondern allein kriminalistischen Gespürs.

Gemäß der Videoaufnahmen der Kameraüberwachung, die von den Ermittlern am 5. September präsentiert wurden, hätte eine Präparierung der Türklinke durch Petrow und Boschirow zwischen 12:05 und 12:50 erfolgt sein müssen. Sergej und Julia Skripal wurden aber erst um 16:03 auf einer Parkbank im Avon Playground in bewusstlosem Zustand aufgefunden. Werden ihre dokumentierten Bewegungen berücksichtigt, dann dürfte die Differenz zwischen der Infektion und dem Einsetzen der Wirkung mindestens drei Stunden betragen haben. Während dieser Zeitspanne befanden sich beide in normaler Verfassung, wie ihre Aktivitäten und Zeugenaussagen belegen.

Wurde anfänglich die Anbringung des Gifts an der Türklinke durch ein geruchloses Gel vermutet, so geht die Polizei aktuell davon aus, dass es aufgesprüht wurde. Diese Wendung erscheint seltsam, da es bereits für einen Laien möglich sein dürfte, den Unterschied festzustellen. Dass die vermeintlichen Attentäter ihr Werk am helllichten Tag verrichtet und keine Schutzkleidung benutzt haben sollen, würde sie nicht gerade als professionelle Killer ausweisen. Augenscheinlich hatten sie weder die Absicht gehabt, ihre Identität zu verbergen, noch befürchteten sie infiziert zu werden. Beides erscheint wenig glaubhaft. Werden diese Bedenken zur Seite geschoben, dann muss die offizielle Theorie dennoch den Nachweis erbringen, dass

  1. eine Form des Nowitschok existiert, das mit zeitlicher Verzögerung wirkt
  2. das Nowitschok an der Türklinke haften bleibt und sich auf die Opfer überträgt.

Laut dem vom „Guardian“ veröffentlichten Brief des britischen Sicherheitsbeauftragten Mark Sedwill an den NATO-Generalsekretär vom 13. April hätte Russland bis in die letzten Jahre an der Entwicklung von Nervenkampfstoffen gearbeitet und dabei speziell deren Anbringung an Türklinken getestet. Weder nannte er die Informationsquelle noch wurde deutlich, ob er über vage Hinweise oder einwandfreie Belege verfügt. Bezeichnenderweise wirft er der britischen Regierung vor, verunsichert durch die damaligen Falschinformationen über Massenvernichtungswaffen im Irak geneigt zu sein, „alle möglichen Indizien zu vernichten“.

Ergänzend berichtete die „Daily Mail“ unter Berufung auf britische Geheimdienstquellen, dass es Russland gelungen sei, eine Nowitschok-Version zu entwickeln, die erst mit Verzögerung wirke. Es hätte dabei die Absicht im Vordergrund gestanden, die eigenen Agenten rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Auch hier bleibt offen, auf welche Indizien oder Beweise sich der MI6 stützt.

Wie die meisten anderen Staaten unterwarf sich Russland in der Chemiewaffenkonvention dem „Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen“. Diese trat im Jahr 1997 in Kraft. Wenn die britische Seite nun belegen kann, dass Russland weiterhin an der Entwicklung von Nervengiften forscht, dann wäre sie verpflichtet, dies der OPCW zu melden. Darüber ist aber nichts bekannt, wobei angenommen werden kann, dass London kaum auf die Gelegenheit verzichtet hätte, einen solchen Verdacht publik zu machen. Der Zeitpunkt der erhobenen Anschuldigungen stärkt die Vermutung, dass sie zu dem Zweck kreiert wurden, die offizielle Version im Skripal-Fall zu untermauern.

Annahmen mit geringer Wahrscheinlichkeit

Warum als Attentatsform ausgerechnet eine Präparierung der Türklinke mit Nowitschok gewählt worden sein soll, lässt sich nicht rational erklären. Neben den Gefahren für die Täter, überrascht zu werden und sich zu infizieren, bestand ein hohes Risiko, dass eine andere als die Zielperson nach der Klinke greift.

Dass es Russland gelungen sein soll, eine Form des Nowitschoks zu entwickeln, deren Wirkung mit mehrstündiger Verzögerung eintritt, erscheint angesichts der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse recht zweifelhaft. Gleichwohl dürfte schwer zu erklären sein, wie unter realen Bedingungen hätte experimentiert werden können, was für einen erfolgreichen Einsatz unumgänglich gewesen wäre. Sollte die russische Führung – oder eine eigenmächtig handelnde Behörde – einen Anschlag auf die Skripals geplant haben, dann hätten reichlich Optionen zur Verfügung gestanden, die zuverlässiger und weniger riskant sind.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den Opfern um Personen unterschiedlicher Kondition sowie verschiedenen Alters und Geschlechts handelt. Auch dürften sie kaum die gleiche Menge des Nervengifts abbekommen haben. Es wäre daher höchst unwahrscheinlich, dass die Wirkung bei beiden nach mehr als drei Stunden gleichzeitig eintreten würde. Dies musste aber der Fall gewesen sein, da andernfalls der zuletzt Betroffene einen Notarzt alarmiert hätte.

Da sich die Skripals durch Hautkontakt infiziert haben sollen, wären alle Personen akut bedroht gewesen, die dieselben Gegenstände zu einem späteren Zeitpunkt berührten. Die Ermittler verwiesen auf Spuren von Nowitschok in mehreren Proben, u.a. aus dem Restaurant „Zizzi“ und dem „Bishops Mill Pub“, in denen die Skripals verkehrten. Das Nervengift müsste ebenso auf Menschen übertragen worden sein. War ursprünglich beim Verdacht einer Fentanyl-Vergiftung von mehreren Infizierten die Rede, so tauchte diese Information später nicht mehr auf.

Einzig der Polizeibeamte Nick Bailey war nach offiziellen Angaben in Behandlung. Da er bei der vermeintlichen Übertragung des Nervengifts Handschuhe trug, müsste die Infektionsgefahr außerordentlich groß gewesen sein. Es wäre daher sehr wahrscheinlich, dass Teile des Krankenhauspersonals infiziert worden wären, zumal die polizeiliche Bekanntmachung einer Verwendung des Nowitschoks erst Tage später erfolgte.

Der Blogger Rob Slane sieht im Fall Nick Bailey eine der Achillesfersen der offiziellen Version. Da er sich an demselben Tag wie die Skripals infiziert haben soll, bestand anfangs die Vermutung, dies sei bei der Parkbank geschehen. Später hieß es, die Vergiftung wäre über die Türklinke von Sergej Skripals Haus erfolgt. Warum sollte Bailey aber dorthin geschickt worden sein, da zu diesem Zeitpunkt noch kein Kriminaldelikt angenommen wurde? Falls er dennoch das Haus aufsuchte und dabei mit dem Gift in Berührung kam, wäre es dann nicht naheliegend gewesen, sofort mit dessen Inspektion zu beginnen? Bis dahin vergingen nach offiziellen Angaben mehr als zwei Wochen und schließlich noch eine dritte, ehe die Türklinke als vermeintliche Übertragungsquelle benannt wurde.

Um an der offiziellen Version festhalten zu können, müssten die folgenden Annahmen zutreffen:

  • Die Tatverdächtigen agierten höchst unprofessionell; sie riskierten, überrascht zu werden und sich zu infizieren.
  • Ob Nowitschok auf die Klinke durch ein Gel aufgetragen oder aufgesprüht wurde, konnte während der Probenahmen nicht korrekt festgestellt werden.
  • Die für das Attentat Verantwortlichen haben sich für das Nervengift Nowitschok entschieden, obwohl es zuverlässigere Alternativen mit geringerem Risiko gibt.
  • Russischen Experten war es im Widerspruch zu bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen gelungen, eine Nowitschok-Version mit um Stunden verzögerter Wirkung zu entwickeln.
  • Die britische Seite hatte Indizien oder sogar Beweise zu russischen Experimenten mit Nervengiften, die sie entgegen ihrer Verpflichtung nicht der OPCW meldete.
  • Kondition, Alter und Geschlecht der Opfer sowie die Intensität des Kontakts hatten keinen Einfluss auf die Zeitspanne zwischen Infizierung und Wirkungseintritt.
  • Außer den Skripals und dem Polizeibeamten Nick Bailey ist trotz des hohen Übertragungsrisikos keine weitere Person infiziert worden.
  • Nick Bailey wurde zu Skripals Haus geschickt, obwohl noch kein Verdacht eines Kriminaldelikts bestand. Ungeachtet der hohen Wahrscheinlichkeit, dass er sich dort infiziert haben könnte, begann die Inspektion des Hauses erst Wochen später.
  • Trotz unterschiedlicher Symptome einer Fentanyl- und Nowitschok-Vergiftung haben die Ärzte irrtümlich angenommen, dass die Skripals an der erstgenannten litten.
  • Entgegen aller bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse gelang es nicht nur, die Opfer nach der Infizierung mit Nowitschok am Leben zu halten, sondern offenbar auch mögliche Langzeitschäden abzuwenden.

Jede einzelne dieser Behauptungen erscheint als höchst zweifelhaft. Werden sie in ihrer Gesamtheit betrachtet, dann geht die Wahrscheinlichkeit des Wahrheitsgehalts gegen Null. Es bedarf offenkundig keiner speziellen Fachkenntnisse oder zusätzlichen Faktenwissens, um die Türklinkentheorie zu widerlegen. Simple Plausibilitätserwägungen erweisen sich als ausreichend.

Der Beitrag wurde zuerst auf dem Heise-Portal Telepolis veröffentlicht

 

COMMENTS