Die Rostocker Rede von Altbundeskanzler Gerhard Schröder

Herr Ministerpräsident, Herr Gouverneur, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Haben Sie vielen Dank für die Einladung.

Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Veranstaltung richtig ist – und auch zum richtigen Zeitpunkt stattfindet. Denn dieser Russland-Tag soll dem Dialog und dem Brückenschlag zwischen zwei Ländern dienen. Dialog sollte – er muss – gerade in schwierigen Zeiten geführt werden. Wenn nicht jetzt – wann dann?

Dialog bedeutet nicht Kritiklosigkeit. Kritik gehört zu einem sachlichen Austausch von Meinungen und Standpunkten dazu. Dialog bedeutet vor allem, dass man versucht, unterschiedliche Interessen zu berücksichtigen, Vertrauen wieder aufzubauen und Kompromisse zu finden. Nur wer miteinander spricht und wer zuhört, der kann die Position des Anderen verstehen, auch wenn er sie vielleicht nicht teilt. Und dieses Verstehen anderer Positionen ist eine Voraussetzung dafür, Brücken zu bauen und Konflikte lösen zu können. Nur so kann wieder Vertrauen entstehen, dass derzeit fehlt.
Deswegen bin ich der Landesregierung dankbar, dass sie an dieser Veranstaltung festgehalten hat. Und ich bin den Gästen aus Russland dankbar, dass sie gekommen sind. Ich sage ausdrücklich: Sie sind herzlich willkommen!

Meine Damen und Herren, bevor ich zum eigentlichen Thema meiner Rede – den Wirtschaftsbeziehungen – komme, möchte ich einige Anmerkungen zu den politischen Beziehungen machen, da beides nicht voneinander zu trennen ist.

Nach dem Ende der schrecklichen Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien in den 90er Jahren war es Ziel der europäischen Familie, neue Kriege und innerstaatliche Konflikte auf unserem Kontinent zu vermeiden. Dies ist, wie wir heute wissen, nicht gelungen. Es ist uns – und da schließe ich meine Amtszeit ausdrücklich mit ein – nicht gelungen, eine stabile Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa zu schaffen. Eine Architektur, die den neuen sicherheitspolitischen Anforderungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem dadurch ausgelösten Ende der Bipolarität gerecht wird. Eine Architektur, die Sicherheit auf dem ganzen europäischen Kontinent – einschließlich der Russischen Föderation – gewährleistet. Sie zu schaffen, ist eine Herausforderung für die Zukunft, wenn die aktuellen Auseinandersetzungen überwunden sind.

Wir alle hoffen auf Frieden in und für die Ukraine und auf eine nachhaltige politische Lösung des Konflikts. Und wir sind erleichtert, dass es eine positive Entwicklung gibt. Die Konfliktparteien sollten alles tun, um die weitere Umsetzung der Minsker Vereinbarung zu unterstützen. Alle Beteiligten an diesem Konflikt, die Ukraine, Russland und die Europäische Union, müssen ein gemeinsames Interesse an einer stabilen und prosperierenden Ukraine haben. Aus diesem gemeinsamen Interesse erwächst auch eine gemeinsame Verantwortung.

Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen war im Zusammenhang mit dieser Krise viel die Rede davon, dass aus der schmerzhaften Geschichte unseres Kontinents im 20. Jahrhundert gelernt werden sollte. Jahreszahlen schwirren durch den politischen Raum. Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg, vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. Das weckt Assoziationen, die aber nicht immer auf aktuelle Ereignisse und Entwicklungen angewendet werden können. Es gibt keine Automatismen. Jede Spirale von Drohungen, auch von Gewaltanwendungen, kann durch politisches Handeln durchbrochen werden. Und es ist Aufgabe von den heute in politischer Verantwortung Stehenden in Europa, der Ukraine und Russland, dies mit diplomatischen Mitteln zu erreichen.

Aber es stimmt schon, dass die aktuelle Krise nicht losgelöst von historischen Erfahrungen beurteilt werden kann. Das gilt zum Beispiel für unseren Nachbarn Polen. Die drei Teilungen im 18. Jahrhundert, der deutsche Überfall 1939 und die Unterdrückung in den Jahren nach 1945 haben tiefe Spuren im Gedächtnis des polnischen Volkes hinterlassen – und wirken in der heutigen polnischen Politik nach. Diese historischen Erfahrungen müssen ernst genommen werden – und deswegen steht Deutschland auch zu seinen Bündnisverpflichtungen.

Historische Erfahrungen hat aber auch unser europäischer Nachbar Russland gemacht. In der damaligen Sowjetunion – auch auf dem Territorium der heutigen Ukraine– haben im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Seit Napoleons Russlandfeldzug fühlt sich Russland vom geographischen Westen bedroht, drei Mal stand der Feind tief im eigenen Land. Das hinterlässt Spuren im Gedächtnis eines Volkes – und wirkt in der heutigen russischen Politik nach. Auch diese historischen Erfahrungen müssen von der europäischen Politik ernst genommen werden. Und vor allem von der deutschen Politik, denn alle unsere Nachbarn im Osten haben unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Schlimmstes erlitten.

Diese Erfahrungen, die die Völker Europas gemacht haben, sind sehr unterschiedlich. Die Schlüsse, die daraus gezogen werden, auch.

Nicht ohne Sorge stelle ich fest, dass wir von einem gemeinsamen Geschichtsverständnis in Europa und Russland weit entfernt sind. Hier gibt es noch viele Einschätzungen und Beurteilungen, die uns mehr trennen als näher bringen. Ich denke, dass es noch eine lange Zeit braucht, sich einander zu erklären – ohne den Zwang der Rechthaberei oder der Rechtfertigung. Und deshalb sind Dialogforen so wichtig. Dialogforen, wie der heutige Russland-Tag, aber auch Einrichtungen wie der Petersburger Dialog oder das Deutsch-Russische Forum. Solche Dialoge müssen gestärkt werden.

Ein Blick auf das deutsch-französische Verhältnis zeigt, dass Verständigung und Versöhnung möglich sind, auch wenn vor wenigen Jahrzehnten Gräben unüberwindbar erschienen.
Ein anschauliches Beispiel: Im Jahr 2003 haben der französische Staatspräsident Chirac und ich als Bundeskanzler ein gemeinsames deutsch-französisches Schulbuch in Auftrag gegeben. Historiker und Autoren aus unseren beiden Ländern haben ein gemeinsames Geschichtsbuch verfasst, das seit sieben Jahren in Schulen beider Länder eingesetzt wird. Ich habe die Vorstellung, dass Historiker aus Russland, Polen, Deutschland und anderen europäischen Staaten ein gemeinsames Geschichtsbuch verfassen, aus dem alle Schüler unserer Länder lernen. Das würde einen konkreten Beitrag dazu leisten, Vergangenheit aus verschiedenen Sichten zu vermitteln und wahrzunehmen, die Möglichkeit eröffnen, sich in die Welt der Anderen hineinzudenken und sich dadurch anzunähern.
Ich weiß, das klingt in diesen Tagen wie eine sehr ferne Vision. Aber das wäre vor wenigen Jahrzehnten ein gemeinsames deutsch-französisches Schulbuch auch gewesen. Heute haben wir es.
Und ein solches Projekt ist allemal besser, als ständig den Zeigefinger zu erheben und der anderen Seite ein vermeintlich falsches Geschichtsbild und einen falschen Wertekanon vorzuwerfen.
Stattdessen sollten wir Brücken zwischen unseren Völkern schlagen und Vertrauen schaffen.

Meine Damen und Herren, da wir wissen, wie wichtig Frieden und Stabilität in ganz Europa für unser Wohlergeben und unseren Wohlstand sind, liegt ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland im Interesse von Deutschland und ganz Europa. Das war immer Kern der deutschen Politik gegenüber Russland – beziehungsweise früher gegenüber der Sowjetunion. So haben es alle deutschen Kanzler gehalten – und wir sind gut beraten, diesen Kurs nicht zu verlassen.

Manche wischen heute die Erfolge der letzten zwei Jahrzehnte russisch-europäischer beziehungsweise russisch-deutscher Partnerschaft zur Seite und erklären sie für gescheitert. Das ist nicht nur scheinheilig, mag auch politisch motiviert sein, es ist aber vor allem voreilig und kurzsichtig. Wo stünden wir denn heute, wenn wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht dieses Maß an gegenseitigem Vertrauen gehabt hätten? Dieses Maß an Vertrauen hat es uns doch ermöglicht, dass Deutschland heute wieder vereinigt ist, dass die russische Armee sich aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks zurückgezogen hat.

Dieses Vertrauen hat auch ermöglicht, dass die osteuropäischen Staaten Mitglieder sowohl von Europäischer Union als auch NATO werden konnten. Dieses Vertrauen – die Währung in den internationalen Beziehungen – ist erschüttert. Das hat nicht nur mit den aktuellen Ereignissen zu tun, sondern das ist ein längerer Prozess, der schon vor einigen Jahren eingesetzt hat – und der nicht einseitig ist. Dieses Vertrauen muss jetzt wieder wachsen. Und dazu gehört, auch in schwierigen Zeiten den Dialog zu führen.
In diesem Zusammenhang ist das Bemühen der Bundesregierung, der Kanzlerin und des Außenministers, sehr hoch einzuschätzen, den Gesprächsfaden mit Moskau nicht abreißen zu lassen und eine politische Lösung anzustreben.

Lassen Sie mich auch ein Wort zu dem inzwischen berühmten Begriff „Russland-Versteher“ sagen. Das ist in den Medien zu einer Art Kampfbegriff geworden, der diejenigen diskreditieren soll, die in der Debatte differenzieren wollen.
Ich stehe dazu, dass ich Russland, seine Menschen und seine politische Führung verstehen will. Ich schäme mich dafür nicht, im Gegenteil: ich bin stolz darauf.
Im Übrigen ist das eine Position, für die ich viel Zuspruch aus der Bevölkerung erhalte.
„Verstehen“ ist für mich ein positiver Ansatz. Es geht darum, zu verstehen, warum der Andere so handelt, wie er handelt.
Erhard Eppler hat hierzu ausgeführt, dass Politik zu einem beträchtlichen Teil aus dem Bemühen bestehe, die Leute zu verstehen, die das Gegenteil für richtig halten.
Nur wer dazu in der Lage ist, kann selbst eine rationale Politik gestalten – das ist eine Erkenntnis der Entspannungspolitik.

Willy Brandt hat nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag 1968, also in aufgewühlten Zeiten, seine damals umstrittene Politik wie folgt verteidigt:

„Abbau der Spannungen heißt, ohne Illusionen und trotz allem, was in der Welt ist, ehrlich den Versuch zu machen,
Krieg zu verhindern,
Elemente der Friedenssicherung zu schaffen,
noch mehr Aufmerksamkeit den Interessen der Hauptbeteiligten zuzuwenden,
jedenfalls: niemandem das Gefühl zu vermitteln, ihm solle ein Fell über die Ohren gezogen werden.“

Übertragen auf die heutige Situation, kann die internationale Politik das als eine Mahnung und einen Rat begreifen:
Nämlich den, durch eine Politik der Zusammenarbeit, der Vertrauensbildung und der Entspannung aus einer Spirale der gegenseitigen Vorwürfe, Drohungen und Sanktionen herauszufinden. Daher brauchen wir in Deutschland auch keine „neue“, keine auf Konfrontation ausgelegte Russland-Politik, wie sie manche Falken fordern. Wir sollten uns vielmehr wieder auf die Elemente der alten Entspannungspolitik besinnen.

Im Grundsatz, und das hat der Architekt der Entspannungspolitik Egon Bahr vor kurzem zu Recht angemerkt, geht es um eine Frage:
Wollen wir Sicherheit vor oder mit Russland?
Meine Auffassung ist klar: Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent gibt es nur in einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland. Und diese Stabilitäts- und Friedensordnung gilt es zu bauen – im gemeinsamen Interesse Europas und Russlands.

Meine Damen und Herren, Europa muss auch aus sehr eigenem Interesse eine Partnerschaft mit Russland wollen:
Die europäische Währungs- und Wirtschaftskrise, die damit verbunden auch eine politische Krise ist, ist bei weitem nicht überwunden.
Die europäische Wirtschaft befindet sich in einer Umbruchsituation, die von großen Unsicherheiten geprägt ist.
Die gemeinsame Währung ist nur oberflächlich stabilisiert, da die Basis für eine Währungsunion – eine koordinierte Finanz- und Wirtschaftspolitik – noch geschaffen werden muss.
Zudem müssen wir uns mit einer sich verändernden globalen Situation auseinandersetzen. Wir sehen, dass in Asien dynamische Industriestaaten aufsteigen, allen voran China. Dieses Land bildet inzwischen einen Gegenpol zu den USA.

In diesem globalen Wettlauf hat nur ein vereintes Europa eine Chance. Ein Nationalstaat alleine, sei es selbst das starke Deutschland, ist zu schwach, um wirtschaftlich wie politisch mithalten zu können.
Wir müssen also die politische Integration in der Europäischen Union fortsetzen.
Zudem müssen die europäischen Volkswirtschaften international konkurrenzfähig sein. Dazu bedarf es einer richtigen Balance zwischen Reformen, wie wir sie in Deutschland mit der Agenda 2010 gemacht haben, und Investitionen.
Und schließlich braucht Europa starke Partner. Wir Europäer können es uns schlicht nicht leisten, wenn sich Staaten wie die Türkei und Russland politisch, kulturell und ökonomisch von Europa abwenden.
Diesen Prozess erleben wir zurzeit. Das ist eine Gefahr für Europa.

Ja, die USA sind und bleiben Partner Nummer Eins für Deutschland und die Europäische Union. Das transatlantische Bündnis ist ein Eckpfeiler unserer Politik. Dennoch sage ich, dass sich die Mitgliedschaft im transatlantischen Bündnis und die Partnerschaft mit Russland nicht ausschließen.

Der Aufstieg der asiatischen Staaten verändert auch das transatlantische Verhältnis. Die USA sehen sich inzwischen als „pazifische Nation“ – ausgerichtet auf Asien.
In Asien wollen und werden sich die USA wirtschaftlich, diplomatisch und militärisch stärker engagieren. Und in der Folge in Europa weniger.
In dieser Situation sollten wir uns Europäer fragen, ob es sinnvoll ist, wenn sich Russland von Europa wegbewegt. Denn für Russland gibt es eine Alternative: Wir sehen den Aufbau multilateraler Strukturen in der eurasischen Region und von chinesisch-russischen Energiepartnerschaften.

Das alles muss für uns Europäer noch keine gefährliche Entwicklung sein. Im Gegenteil: Alles, was zur Stabilisierung dieser Region beiträgt, ist gut für Frieden und Entwicklung im globalen Kontext. Aber wir Europäer sollten darauf achten, dass die Balance gewahrt bleibt, dass wir eine tiefere ökonomische und politische Verflechtung zu Russland herstellen.

Eine politische Verflechtung brauchen wir, weil wir uns über zwei Dinge im Klaren sein sollten.
Zum einen ist es eine Illusion zu glauben, dass Russland international isoliert ist oder zu isolieren sei. Russland ist Atommacht und als Ständiges Mitglied eine von fünf Vetomächten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Zum anderen: Bei der Lösung aller großen internationalen Herausforderungen brauchen wir Russland.
Und diese Herausforderungen betreffen und bedrohen uns Europäer sehr konkret.

Wer einen Blick auf die Weltkarte wirft, wird feststellen, dass sich um Europa herum ein Korridor der Instabilität und Unsicherheit gebildet hat, vom nördlichen Afrika, über den Nahen und Mittleren Osten, den Kaukasus bis hin an die Ostgrenze der Europäischen Union. Das ist, man darf das durchaus kritisch anmerken, nicht nur, aber auch eine Folge der Politik des Westens. Hier sei nur als Stichpunkt der Irak genannt.
Es ist daher in unser aller Interesse, dass wieder Vertrauen in den internationalen Beziehungen und den Beziehungen zwischen NATO und EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite wächst.
Denn gemeinsames Vertrauen ist die Grundlage, um die genannten Herausforderungen zu bewältigen.

Meine Damen und Herren, neben der politischen Verflechtung spielt die wirtschaftliche Verflechtung eine besondere Rolle.
Blickt man auf die vergangenen Jahrzehnte zurück, so sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland kontinuierlich enger und erfolgreicher geworden. Das trifft auf die Unternehmen sowohl im Westen wie im Osten unseres Landes zu.
Das Erdgasröhrengeschäft in den 70er Jahren eröffnete eine breite wirtschaftliche Kooperation zwischen der Bundesrepublik und der damaligen Sowjetunion.
Und auf den Handelsbeziehungen der damaligen DDR im Ostblock konnten nach der Wende gerade viele mittelständische Betriebe in den Neuen Bundesländern aufbauen.
Es gibt kaum ein Land, in dem der deutsche Mittelstand so stark vertreten ist wie in Russland. Über 6.000 deutsche Unternehmen sind dort präsent, und zwar flächendeckend von Kaliningrad bis Wladiwostok. Und umgekehrt sind russische Investoren verstärkt in Deutschland aktiv, das weiß man gerade in Mecklenburg-Vorpommern zu schätzen.
Zum Beispiel bei der Kooperation im Schiffbau gibt es bereits Erfolge, die weiter ausgebaut werden können.

Der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft geht davon aus, dass in Deutschland rund 350.000 Arbeitsplätze am Russlandgeschäft hängen. Durch diese enge und langfristige Zusammenarbeit deutscher und russischer Unternehmer ist über die Jahrzehnte großes Vertrauen gewachsen. Dieses Vertrauen ist ein Kapital, nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch – und das macht die politische Bedeutung aus – im Sinne einer immer engeren Verflechtung, die völkerverständigend sein kann. Umso härter erschüttern die gegenseitigen Sanktionen dieses Vertrauen.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Ereignisse der vergangenen Monate eine Schneise in die gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen geschlagen haben. Die Sanktionen bleiben für die europäischen und die deutschen Unternehmen nicht ohne Auswirkungen.
Gerade spezialisierte Mittelständler in Ostdeutschland, die einen hohen Umsatzanteil durch das Russland-Geschäft haben, kämpfen mit ausbleibenden Aufträgen.
Die Konjunkturerwartungen sinken, weil das Risiko einer Sanktionsspirale weiter besteht. Die OECD hat ihre Prognose für das Wachstum in Deutschland für 2014 und 2015 deutlich gesenkt.

Ebenso sind die Auswirkungen in Russland spürbar. Der Rubel verliert an Wert. Kapital in erheblichem Umfang wird abgezogen. Investitionsentscheidungen werden nicht getroffen.
Lassen Sie mich auch anmerken: Schon allein, dass von russischer Seite jetzt über die Enteignung von Unternehmenswerten nachgedacht wird, hat erhebliche negative Wirkungen auf Investitionsentscheidungen.
Zwei Drittel aller Investitionen in Russland stammen aus der Europäischen Union. Russland muss sich daher klar zu Eigentums- und Investitionsgarantien und zu einer unabhängigen Justiz bekennen.
Auch die vielen nichttarifären Handelshemmnisse, die nach Russlands WTO-Beitritt eingeführt wurden, sollten überprüft werden, da sie den Wettbewerb verzerren. Das ist auch im Interesse der russischen Wirtschaft, denn sie benötigt das hohe technologische Know-How der deutschen Produkte.
Sicherlich bieten sich alternative Lieferanten aus Asien und Lateinamerika als Ersatz an. Aber die Qualität und die Dienstleistungen, die deutsche Unternehmen bieten können, sind nur schwer zu ersetzen. Trotzdem wissen deutsche Unternehmen, die in den Weltmärkten aktiv sind, wie schnell Aufträge an Konkurrenten verloren werden können. Und wie schwierig es ist, wenn diese Aufträge erst einmal weg sind, neues Vertrauen und neue Kontakte aufzubauen, um wieder ins Geschäft zu kommen.
Die gegenseitigen Sanktionen schaden beiden Seiten immens. Deswegen mahne ich an, dass sowohl die russische als auch die europäische Politik aus der Spirale von immer schärferen Wirtschaftssanktionen herausfinden müssen.

Meine Damen und Herren, Deutschland und Russland haben vor sechs Jahren eine Modernisierungspartnerschaft vereinbart. Ich halte dieses Konzept – auch vor dem Hintergrund der politischen Verwerfungen – weiterhin für richtig.
Es ist in unserem deutschen und europäischen Interesse ebenso wie es im russischen Interesse ist, die Modernisierung der russischen Wirtschaft voranzutreiben.

Die Defizite der russischen Wirtschaft sind bekannt, und sind auch von der politischen Führung des Landes selbst benannt worden:
die viel zu starke Abhängigkeit vom Rohstoffhandel
die zu niedrige Produktivität,
die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit der Produkte,
das Fehlen einer mittelständischen Wirtschaftsstruktur,
nicht zuletzt: die überbordende Bürokratie, die zum Teil maßlose Korruption und der Mangel an Rechtsstaatlichkeit.
Das sind alles Defizite, die – das sagen alle, die im Russlandgeschäft tätig sind – beseitigt werden müssen, damit die russische Wirtschaft langfristig erfolgreich sein kann. Denn die niedrigen Wachstumszahlen haben ihre Ursache nicht nur in den Sanktionen, sondern sind vor allem Folge struktureller Mängel.

Deutschland und deutsche Unternehmen können bei der dringend notwendigen Modernisierung der russischen Wirtschaft Partner sein. Wir sollten es auch sein, denn in all diesen Bereichen, die reformiert werden müssen, können wir Wissen, Produkte und Technologie anbieten. Umgekehrt profitieren wir immens von der Energie- und Rohstoffpartnerschaft mit Russland. Dabei geht es vor allem um Erdgas und Erdöl.

Die Nord Stream-Pipeline, deren Aufsichtsratsvorsitzender ich bin, und die hier in Mecklenburg-Vorpommern anlandet, ist ein erfolgreiches Beispiel für diese Kooperation. Diese Pipeline verbindet die wichtigsten russischen Gasfelder mit Europa.
Die Europäische Union hat sie schon früh zu einem „Projekt von europäischem Interesse“ erklärt, weil sie die Versorgungssicherheit erhöht. Dass das so ist, beweist sie in diesen Tagen. Wir sind gut beraten, diese Energie- und Rohstoffpartnerschaft weiter auszubauen. Nicht nur, weil Russland ein verlässlicher Lieferant war, ist und bleibt. Sondern auch, weil unsere deutsche Industrie auf diese Rohstoffe, dabei geht es nicht nur um Öl und Gas, existenziell angewiesen ist.

Grundsätzlich gilt: Jeder zusätzliche Lieferant, jede Pipeline, jeder LNG Terminal ist ein Beitrag für mehr Versorgungssicherheit. Aber solche Infrastrukturprojekte können nur dann erfolgreich sein, wenn Angebot und Nachfrage übereinstimmen. Und wir können diese Rohstoffe nur von dort beziehen, wo es sie gibt. Russland ist schon aus rein geographischen Gründen ein bevorzugter Partner für uns.
Die Quellen in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten benötigen wir ebenso, sie sind aber keinesfalls sichere Alternativen. Dazu genügt ein Blick auf die Situation im Irak und in Libyen.

Meine Damen und Herren, nicht zuletzt dient die wirtschaftliche Partnerschaft der Modernisierung und Öffnung der Gesellschaft in Russland.
Der Austausch zwischen Gesellschaften, sowohl kulturell wie wirtschaftlich, befördert auch eine Modernisierung der gesellschaftlichen Strukturen. Dieser Zusammenhang darf nicht unterschätzt werden, wenn über Handelsbeziehungen gesprochen wird. Wir wollen ein offenes und modernes, aber eben auch ein stabiles Russland an der Ostgrenze der Europäischen Union. Und um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine engere Anbindung Russlands an die Strukturen der Europäischen Union. Diese Anbindung sollte in einer langfristigen Perspektive auch eine völkerrechtlich verbindliche Qualität besitzen.
Schon vor Jahren habe ich darauf hingewiesen, dass ein Annäherungsprozess der Ukraine an die Europäische Union nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich auch Europäische Union und Russland annähern. Deswegen wäre es von der EU richtig gewesen, nicht nur mit der Ukraine, sondern auch mit Russland über ein Assoziierungsabkommen zu verhandeln.

Wir brauchen eine solche Assoziierung von Russland und der EU, um Frieden, Stabilität und Wohlstand auf dem ganzen Kontinent zu sichern:
Um alle völkerrechtlich umstrittenen Probleme und Konflikte zu lösen – kooperativ statt konfrontativ.
Um Europa als politische und wirtschaftliche Union im globalen Wettbewerb zu stärken.
Um eine Freihandelszone zu schaffen, die von Lissabon bis Wladiwostok reicht.
Um zu verhindern, dass Russland – das ich als eine europäische Nation verstehe – seine Zukunft nicht mehr auf unserem Kontinent, sondern in Asien sieht.
Um eine Modernisierung der russischen Gesellschaft und Wirtschaft zu erreichen.
Um die negativen historischen Erfahrungen endgültig zu überwinden.
Das ist eine Verantwortung für die Politik, für die Gesellschaft – und auch für die Wirtschaft. Eine Verantwortung, der wir gerecht werden müssen – durchaus kritisch, aber konstruktiv, vor allem an unseren Interessen orientiert.
In diesem Sinne hoffe ich, dass der Russland-Tag einen Beitrag zur Verständigung und zum Aufbau von Vertrauen leisten wird.
Ich wünsche Ihnen konstruktive und erfolgreiche Gespräche – und werde jetzt der Diskussion genauso gespannt folgen wie Sie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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