Die Politisierung der Russen

Noch vor einem halben Jahr galt bei einer durchschnittlichen geselligen Runde in Russland mit deutscher Beteiligung eine goldene Regel.

An allem in Deutschland herrschte großes Interesse. „Stimmt es, dass Suppen in Deutschland nur eine Vorspeise sind? Was ist die schönste Stadt in Deutschland? Petersburg ist auch für einen Deutschen eine schöne Stadt, oder?“ Doch ein Thema war stets tabu, wenn man sich nicht im Haushalt eines Mitglieds der extremen Minderheit der überzeugten Regierungsanhänger oder aktiven Oppositionellen befand: Politik – selbst nach Großereignissen wie etwa dem Bombenanschlägen in Wolgograd Ende letztes Jahr oder dem Georgienkrieg 2008. Die Mehrheit der Russen war schlicht und ergreifend unpolitisch – ohne Begeisterung sowohl für die eigene Regierungspolitik als auch westliche Ideale.

Doch nun kommt sie in jeder Runde, unweigerlich, die Frage: Wie halten es die Deutschen mit der Ukraine? Stimmt es, dass die deutschen Journalisten aus jedem Rebellen einen Terroristen machen? Unterstützen die Deutschen wirklich die Sanktionen der EU? Und man merkt noch mehr. Die Menschen, auch die vorher völlig unpolitischen, sind solidarisch mit nach Unabhängigkeit strebenden Ostukrainern, mit den ukrainischen Flüchtlingen in Russland, mit denen, die sich in der Ukraine als Russen fühlen. Auch reine Frauenrunden erhitzen sich über Politik, selbst beim Kaffeeklatsch. Sanktionen fürchtet man nicht, egal ob sie zu leeren Regalen führen werden. Leere Regale kennt man schon und es ist nicht mal so lange her. Man fühlt sich und die eigene Regierung im Recht und nimmt sie notfalls in Kauf. Man rückt zusammen, selbst mit denen „da oben“, bei denen so mancher zuvor eher Solidarität mit denen gezeigt hat, die mit ihnen, den Mächtigen der russischen Gesellschaft, aneinander geraten waren.

Was will man da als Deutscher immer antworten, selbst wenn man die Linie der eigenen Regierung im Konflikt um die Ukraine nicht mit trägt? Man weicht aus, das deutsche Volk hat ja zum Thema in der Tat keine wirklich einhellige Meinung. Presse und Politik hetzen viel, aber das sei nicht die Meinung der normalen Leute „auf der Straße“, die keine Feindschaft zu Russland wollten. Man erzählt besser nichts von Umfragen über den Prozentsatz der Sanktions-Unterstützer. So reagieren wohl dieser Tage viele deutsche Gäste in Russland, unabhängig von ihrer eigenen Meinung in diesem Konflikt mit Potential für einen neuen Weltkrieg, dieser gewalttätigen Frontlinie internationaler Machtpolitik.

Und so lassen auch die russischen Gastgeber irgendwann ab. Ideal ist es nach so einer Fragestunde, auf den Weltfrieden zu trinken, da Russen immer auf etwas trinken und nicht nur einfach so. Frieden wollen alle, auch die Russen. So kann man mit den ausländischen Gast wieder die Kurve bekommen und den Abend harmonisch ausklingen lassen. Doch die besorgten Gesichter bleiben. Sie sind jedoch nur besorgt, nicht ängstlich oder gar panisch. Hier hat keiner Angst davor, dass es keinen norwegischen Fisch mehr gibt oder französischen Käse. Nicht einmal vor der amerikanischen Militärpräsenz in der Ukraine oder dem Schwarzen Meer fürchtet man sich, denn Amerikaner als Feinde sind nichts ungewohntes.

Wäre das Gegenüber einer jener überzeugten Euromaidan-Verklärer, die durch die deutschen Lande geistern, wären die Gesichter vielleicht trotzig, überzeugt. Doch es ist keiner jener Menschen, nur jemand der Frieden will und eine neue deutsch-russische Verständigung. Und das spüren gerade die früher unpolitischen Menschen in Russland und paaren ihre Besorgnis nach solch einem Treffen mit Hoffnung.

Roland Bathon, russland.RU, aktuell in Sol-Ilezk, Orenburg-Region

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