Die neuen Armen der Coronakrisenzeit© Mitja Aleschkowski

Die neuen Armen der Coronakrisenzeit

Text gekürzt veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von VTimes

„Halte durch!“ Dieser einfache Rat war alles, womit die Firmenleitung, wo der Ehemann einer der Heldinnen unserer Geschichte tätig war, unterstützen konnte. Viele Monate hielt er durch, als nach der Pandemie sein Gehalt um das Fünffache auf ein Minimum von 12.130 Rubel gekürzt wurde. Er hielt durch und hoffte, dass bis zum Herbst die Dinge sich bessern würden. Sie habe sich nicht gebessert… Marinas Ehemann (Name auf ihren Wunsch hin geändert) arbeitete als Anwalt für ein großes Bildungsunternehmen in Moskau. Gesichertes Leben, stabiles Einkommen – all das gehörte der Vergangenheit an. „Offline-Vorlesungen waren nicht möglich, und das Online-Format war nicht so effektiv. Wir dachten, dass es bis zum Herbst vielleicht besser werden würde, aber im Herbst begann die zweite Welle“, sagt Marina.

Jetzt ist Marinas Haupteinkommensquelle ihr Gehalt; ihre Firma war von der Pandemie nicht so stark betroffen. Marina und ihr Mann haben drei Kinder, und die Familie versuchte, als kinderreiche und einkommensschwache Familie Unterstützung zu erhalten. Sie wurden jedoch abgelehnt, weil der Einkommensnachweis von Marinas Ehemann ein gutes Gehalt auswies.

„Uns ging es wirklich gut. Wir haben eine Eigentumswohnung, ein Auto, fuhren in Urlaub. Wir waren nicht auf das vorbereitet, was passiert ist“, erzählt Marina. Um zu überleben, mussten sie sich an die Stiftung „Schenk Essen“ wenden, die schon mehrmals mit Lebensmittelpaketen geholfen hat.

Armut ist keine Schwelle

So seltsam es klingen mag, die Covid-Pandemie hat dem Kampf gegen die offizielle Armut in Russland „genützt“. Sie wuchs das ganze letzte Jahr über, aber im vierten Quartal gab es einen Wendepunkt (normalerweise nimmt die Armut am Ende des Jahres ab). Das Ergebnis ist, dass die Armutsquote laut Rosstat im Jahr 2020 nicht gestiegen, sondern sogar gesunken ist – von 12,3 auf 12,1 Prozent. Und das unterscheidet die Situation von der Krise 2014 bis 2015, als die Armut von 10,8 Prozent im Jahr 2013 sprunghaft auf 13,4 Prozent anstieg.

Die Unterstützung der Behörden für die schwächsten Bevölkerungsgruppen half, und die Auswirkungen der Krise wurden paradoxerweise durch die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft mit ihrem geringen Anteil an kleinen und mittleren Unternehmen und dem übermäßigen Anteil des öffentlichen Sektors abgemildert.

Aber die Krise drückte viele Familien zurück an die Armutsgrenze, auch wenn nicht alle diese Grenze überschritten. Das real verfügbare Einkommen der Bevölkerung sank um 3,5 Prozent, und im Vergleich mit dem „Vor-Krimi-Jahr“ 2013 – um 10,6 Prozent, haben die Experten des Entwicklungszentrums der Higher School of Economics (HSE) berechnet. Nach den Umfragen des Lewada-Zentrums beklagen sich fast zwei Drittel der Russen über den Rückgang des Wohlstands (64 Prozent) und der Möglichkeiten, gutes Geld zu verdienen (59 Prozent).

Die Mittelschicht ist am stärksten betroffen – für sie ist die staatliche Unterstützung meist unerreichbar. Während vor der Pandemie 24 Prozent der Erwerbstätigen zur Mittelschicht gehörten, verloren während der Krise 8,7 Prozent von ihnen ihren Arbeitsplatz und 3,9 Prozent wurden arbeitslos, wobei ihr Einkommen nicht höher als der Mindestlohn war. Weitere 6,1 Prozent der Mittelschicht wurden ärmer, so die Ökonomen der HSE. Zur Mittelschicht gehören laut HSE-Wissenschaftlern hochqualifizierte Arbeiter mit höherer oder unvollständiger Hochschulbildung, deren Durchschnittseinkommen nicht niedriger als 1,25 Medianeinkommen ist (laut Rosstat betrug das Medianeinkommen pro Kopf im Jahr 2019 26.365 Rubel). Diese „Wohlfahrtszone“ – der Anteil der Bevölkerung mit durchschnittlichem Einkommen – schrumpfte schon vor der Krise über die gesamten 2000er Jahre, sagt Swetlana Marejewa, Leiterin des Stratification Research Center am HSE-Institut für Sozialpolitik, in ihrer Kolumne für Econs.

Unter den Opfern waren Kleinunternehmer – die Krise hat ihnen sowohl das Geschäft als auch die Lebensgrundlage entzogen. „Dieser Job ernährte mich und meine Familie, brachte ein stabiles, regelmäßiges Einkommen“, erinnert sich Nadeschda, die seit 2013 ein kleines Geschäft für Autolacke in Moskau führte. Nach ihren Berechnungen brachte das Geschäft 450.000 bis 500.000 Rubel pro Monat ein. Doch fast von den ersten Tagen der Pandemie an musste sie den Laden schließen – erst für einen Monat wegen Selbstisolierung, dann komplett. „Obwohl wir grünes Licht für die Arbeit bekamen, blieben alle Kunden zu Hause“, erklärt Nadeschda. „Das heißt, es gab niemanden, für den man arbeiten musste. Keiner hat die Miete gekündigt. Am Ende haben wir uns entschieden, den Betrieb einzustellen“. Es tue ihr sehr leid, den Standort zu verlieren. Aber der Vermieter hat die monatlichen Zahlungen nicht nur nicht reduziert, sondern im Gegenteil sogar erhöht.

Auch Freiberufler, die als Teilzeitkräfte einen erheblichen Teil ihres Einkommens verloren haben, hatten es schwer. Nikolai Chischnjak, ein Fotograf aus Krasnodar, ist Mitarbeiter der Website des Fernsehsenders Kuban 24, aber sein Haupteinkommen stammt aus der Arbeit für föderale Medien. Im ersten Monat der Pandemie stieg die Nachfrage nach Berichten stark an, und Nikolai verdiente gutes Geld. Zwei oder drei Monate später änderte sich sein gesamter Verdienst: Er hatte nur noch ein Gehalt von 21.000 Rubel. Zunächst schlugen er und seine Frau sich mit einigen Teilzeitjobs durch, um ihre Ersparnisse zu retten. Als ihnen auch diese ausgingen, wurde es sehr schwierig, und Nikolai musste sich als Taxifahrer verdingen. „Es war psychologisch schwer, denn auch ich hatte damals eine arrogante Haltung gegenüber dem Taxiberuf“, gibt er zu. „Ich war ein preisgekrönter, gefragter Journalist. Aber am Ende bin ich setzte ich mich ans Steuer und fuhr los“.

Wie die Behörden in der Krise halfen

Die Behörden haben etwa fünf Billionen Rubel ausgegeben, um die Bevölkerung, die Wirtschaft und das Gesundheitssystem im Jahr 2020 zu unterstützen, sagte Finanzminister Anton Siluanow. Der Umfang der sozialen Unterstützung ist im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen, und die Hilfe selbst wurde gezielter, schrieben die Prüfer der Rechnungskammer. Nach ihren Schätzungen haben vor 2020 Familien mit einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums nur 22 bis 26 Prozent aller Sozialleistungen erhalten, und 19 bis 20 Prozent der armen Familien haben keine Hilfe bekommen. Während dieser Krise erhielten 40 Prozent der am wenigsten wohlhabenden Menschen Unterstützung – meist Familien mit mehreren Kindern sowie Rentner, schrieben die Ökonomen der Weltbank. Berechnungen der HSE ergaben, dass die Hilfen für Familien mit Kindern und Arbeitslose etwa ein Siebtel der „Einkommensausfälle“ und mehr als ein Drittel des Anstiegs der Armut kompensierten. Bei Familien mit Kindern im Alter von 3 bis 7 Jahren beispielsweise sank die Armutsquote nach Sozialleistungen von 32 auf 24 Prozent und lag damit nahe dem Vorkrisenniveau. Aber der Effekt war nur von kurzer Dauer. Und in Familien ohne Kinder war die Armut nicht so hoch, aber während der Krise hat sie sich mehr als verdoppelt. Gezielte Unterstützung für Familien mit Kindern wird helfen, sie kann die Armut um etwa zwei Prozentpunkte reduzieren, so der Rechnungshof.

Die neue Armutsquelle ist der informelle Sektor, in dem nach Schätzungen von Rosstat im dritten Quartal 2020 etwa 14,6 Millionen Menschen beschäftigt waren, das sind 20,7 Prozent aller Beschäftigten. Und die meisten von ihnen hatten keinen offiziellen Job.

Diese Menschen befanden sich in der schwierigsten Situation, schrieben die Experten des Forschungszentrums für soziale und politische Überwachung von RANEPA. Ihre Arbeitgeber konnten keine Kredite bekommen, um die Beschäftigung zu unterstützen, und die Arbeiter selbst nicht einmal den Mindestlohn. Mehr als die Hälfte derjenigen, die im Schattensektor arbeiteten, wurden ärmer (58 Prozent). Während es in vergangenen Krisen der Schattensektor war, der einem Teil der Bevölkerung zum Überleben verhalf, sind im Jahr 2020 Menschen, die inoffiziell arbeiten, zu den am meisten gefährdeten geworden.

Was nun?

Soziale Unterstützungsmaßnahmen ermöglichten es, die negativen Auswirkungen der Krise auf die Armut zu kompensieren. Neue Zulagen, die Präsident Wladimir Putin in seiner Rede vor der Föderalversammlung versprochen hat, zielen auch darauf ab, einige gefährdete Gruppen, wie Alleinerziehende, zu unterstützen. Dies löst aber nicht das Problem der niedrigen Einkommen der Bevölkerung. Das Wohlergehen der Menschen ist schon seit langem rückläufig, und die Pandemie hat ihre Situation nur noch verschlimmert.

Die russischen Behörden wollten die Armutsquote bis 2024 auf 6,5 Prozent senken – die Pandemie zwang sie, das Ziel auf 2030 zu verschieben. Die Krise hat das Ausmaß der Armut vergrößert – Familien, die bereits unter der Armutsgrenze lagen, haben sich weiter von ihr entfernt, schreiben die Weltbank-Ökonomen. Dies ist die Folge von sinkender Beschäftigung (vor allem im informellen Sektor) und Löhnen. Die Armutskluft wird sich vergrößern, so ihre Prognose.

Die größten Herausforderungen liegen noch vor uns. Die Ressourcen zur Unterstützung der Menschen schrumpfen, und die Welle der Unternehmenszusammenbrüche wird die Menschen erneut treffen. So zeigte die Umfrage der Finanzuniversität, dass während dieser Krise der Anteil derer, die zuversichtlich in die Zukunft ihres Unternehmens blicken, auf 36 Prozent gesunken ist. In den Jahren von 2011 bis 2019 ist dieser Wert nicht unter 70 Prozent gefallen. Familien, deren Gesamteinkommen leicht über dem Existenzminimum liegt, bleiben in der Risikozone – das heißt, sie werden formal nicht als arm eingestuft, können aber bei einem negativen Schock unter die Armutsgrenze geraten. Und das macht den Menschen Angst. Vor allem fürchten sie soziale Ungerechtigkeit, Einkommenskürzungen und die Unfähigkeit, wegen der steigenden Preise die üblichen Einkäufe zu tätigen, zeigt eine WZIOM-Umfrage. Steigende Preise und sinkende Löhne sind die beiden größten Ängste, so eine Romir-Umfrage.

Die Pandemie hat gezeigt, dass ein sozial gerechter Staat im 21. Jahrhundert nicht nur Ressourcen zu Gunsten der Armen umverteilen sollte, sondern Bedingungen schaffen, die das Risiko des Verlustes von Arbeitsplätzen und Einkommen reduzieren, sagte die stellvertretende Direktorin des Instituts für Sozialpolitik HSE Oxana Sinjawskaja in dem Bericht zum Jahrestag der Pandemie „Schwarzer Schwan in einer weißen Maske“. Bislang gelingt es den Behörden besser umzuverteilen …

Jelisaweta Basanowa, VTimes,
Swetlana Burlakowa, Takije Dela

Übersetzung aus dem Russischen

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