Die Jukos-Affäre

Von Hans-Henning Schröder, Bremen

Eine spektakuläre Verhaftung

Als der Firmenjet des Jukos-Konzerns am Samstag, dem 25.Oktober 2003, von Saratow kommend auf dem Flughafen von Nowosibirsk landete, wurde er von einer Spezialeinheit des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB umstellt, einer seiner Passagiere, der Jukos-Chef Michail Chodorkowskij, wurde verhaftet und umgehend nach Moskau verbracht.

Diese spektakuläre Festnahme war der vorläufige Höhepunkt eines Untersuchungsverfahrens, das russische Finanz- und Strafverfolgungsbehörden gegen Russlands zweitgrößten Mineralölkonzern Jukos eingeleitet haben. Das Vorgehen gegen Jukos ist aber mehr als ein bloßes Wirtschaftsstrafverfahren, es berührt das schwierige Verhältnis von Staat und Wirtschaft, von politischer Führung und „Oligarchen“.

Putin und die „Oligarchen“

In Russland hat sich in den neunziger Jahren ein tiefgreifender sozialer Wandel vollzogen. Im Zuge der Einführung von Marktwirtschaft spaltete sich die Gesellschaft: Große Bevölkerungsteile erfuhren den Umbruch als Verschlechterung ihrer Lebenssituation, für sie war er mit sozialem Abstieg verbunden. Eine Minderheit aber profitierte von der neuen Ordnung und nahm die Chancen wahr, die Privatisierung und Freigabe der unternehmerischen Tätigkeit boten. Einer Handvoll von ihnen gelang es, sich regelrechte Finanz- und Industrieimperien zu schaffen. Diese „Oligarchen“ erwarben, gedeckt und gefördert von der Jelzinschen Führung, in der ersten Hälfte der neunziger Jahre große Vermögen und eigneten sich bedeutende Teile der lukrativen, exportorientierten Industrien an, vor allem im Buntmetall- und im Erdölsektor. Sie unterstützten ihrerseits die Jelzin-Administration und organisierten 1996 Jelzins Wiederwahl. Das „System Jelzin“ basierte im Kern auf dieser Symbiose von politischer Führung und Wirtschaftseliten. Auch Putin verdankte seine Wahlsiege 1999 und 2000 der Unterstützung durch dieses Machtkartell.

Mit dem Amtsantritt Putins änderten sich die Verhältnisse allerdings. Im Frühjahr und im Sommer des Jahres 2000 begannen Justizorgane und Steuerpolizei, die finanziellen Missbräuche der großen Industrie- und Finanzgruppen schärfer zu verfolgen. Die Mehrzahl der Verfahren konnte ohne Aufsehen – und ohne gravierende Folgen für die betroffenen Unternehmen – abgeschlossen werden. Nur in zwei Fällen gingen die Behörden mit aller Härte vor. Der Medienmagnat Wladimir Gusinskij und der Finanzspekulant Boris Beresowskij, die bis in das Jahr 2000 hinein die wichtigsten Fernsehkanäle kontrolliert hatten, waren gezwungen, Russland zu verlassen, um der Strafverfolgung zu entgehen. Präsident Putin unterstrich die politische Dimension dieses Konfl iktes, als er im Oktober 2000 in der französischen Zeitung „Le Figaro“ erklärte, in den Fällen Gusinskij und Beresowskij stehe der Staat gegen die „Oligarchen“ – und der Staat habe einen Knüppel, mit dem er nur einmal zuschlage – „aber auf den Kopf“.

Dem Präsidenten und seiner Umgebung ging es um zwei Dinge: um die Kontrolle über die elektronischen Medien, die sie mit der Vertreibung Gusinskijs und Beresowskijs auch erreichte, und um die Einschüchterung der Kräfte, die unter Jelzin an der Macht partizipiert und Politik unmittelbar beeinflusst hatten. Um die negativen Auswirkungen seines Vorgehens abzuschwächen, suchte Putin das Gespräch mit den wichtigsten Unternehmern, denen er signalisierte, dass er generell auf Kooperation mit der Wirtschaft setze, und diese ohne Sorge vor staatlicher Verfolgung agieren könne. In der Tat räumte die Putin-Administration in der Folge den großen Kapitalgruppen Freiräume ein, vorausgesetzt sie strebten keine eigenständige politische Rolle an. Die Allianz zwischen politischer Führung und Wirtschaftselite blieb insofern bestehen – allerdings mit einer veränderten Rollenverteilung. Der Konflikt mit Jukos signalisierte im Jahre 2003 aber eine neue Etappe im Verhältnis von politischer Führung und Wirtschaftselite.

Jukos – eine Erfolgsgeschichte

Der Mineralölkonzern Jukos und sein Chef Michail Chodorkowskij waren typische Produkte der Jelzin-Ära.

Mitte der neunziger Jahre hatte die MENATEP- Gruppe unter Führung von Chodorkowskij das Unternehmen im Rahmen der Privatisierungs-Auktionen erworben. Damals hatte eine Reihe von Banken der Regierung hohe Kredite gegen Verpfändung der noch in staatlicher Hand befindlichen Aktien von Großunternehmen angeboten. Die Pfänder verfielen, als der Staat nicht in der Lage war, die Kredite zurückzuzahlen, und die Aktien wurden in meist recht zweifelhaften Verfahren verauktioniert. Für MENATEP fielen dabei die Ölfelder und die Förder- und Verarbeitungsanlagen von Jukos ab. Jukos wurde die produktive Säule der MENATEP- Gruppe, die sich um den Mineralölkonzern neu organisierte. Unter dem Management von Michail Chodorkowskij wurde Jukos nach 1998 zu einem der erfolgreichsten Unternehmen auf dem russischen Erdölmarkt. Die Förderung wuchs rasch: Betrug sie 2000 noch 10,8% gegenüber dem Vorjahr, so waren es 2001 schon 17,3% und 2002 20,3%. Unter den russischen Erdölfirmen lag Jukos an zweiter Stelle hinter Lukoil und galt Börsenfachleuten als die Gesellschaft mit der besten Unternehmenskultur und der intelligentesten Strategie. Auch 2003 setzte Jukos auf Ausbau der Förderung und Ausbau des Unternehmens. Es ging mit dem Mineralölunternehmen Sibneft eine Fusion ein, die im August des Jahres auch von der Regierung genehmigt wurde. Die neue Gesellschaft JukosSibneft übertraf Lukoil an Fördervolumen und Marktkapitalisierung und wurde damit zum größten russischen Erdölunternehmen

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Gleichzeitig sah sich Jukos nach Partnern auf dem internationalen Markt um und führte Gespräche mit Exxon Mobile und Chevron Texas, die eine 25%-Beteiligung an Jukos ins Auge fassten. Das Vorgehen der Behörden gegen Jukos führte im Sommer 2003 allerdings zur Unterbrechung der Verhandlungen.

Mord, Steuerhinterziehung und Betrug?

Aber Jukos mit seinem Expansionsdrang und seinem dynamischen Chef, der keinen Hehl daraus machte, dass er liberale Parteien finanziell unterstützte und für sich selbst in Zukunft eine politische Rolle nicht ausschloss, weckte in der Umgebung des Präsidenten offenbar politische Besorgnis. Die Klimaveränderung im Verhältnis von Putin-Administration und großen Holdings wurde im Mai 2003 spürbar, als ein ominöser „Rat für nationale Strategie“ vor einer Verschwörung der „Oligarchen“ warnte, die Russland angeblich von einer präsidentiellen in eine parlamentarische Republik umwandeln wollten. Michail Chodorkowskij wurde als master mind dieser Kampagne genannt.

Die russischen Medien fassten dies zunächst als Beginn des Wahlkampfs auf, der sich auch deshalb gegen Chodorkowskij richte, weil dieser oppositionelle Parteien wie „Union der Rechten Kräfte“ und „Jabloko“ aber auch die Kommunistische Partei finanziell unterstützte.

Durch die Verhaftung des Sicherheitschefs von Jukos wegen Anstiftung zum Mord, kurz danach die des Finanzdirektors wegen Betrugs und Steuerhinterziehung und schließlich die des Vorstandsvorsitzenden wegen Betrug, Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung wurde aber deutlich, daß die Angriffe auf die „Oligarchen“ einen sehr viel ernsteren Hintergrund hatten. Die Finanz- und Strafverfolgungsbehörden gingen ernsthaft gegen Jukos und Chodorkowskij vor und gaben zu verstehen, daß sie auch vor einer Zerstörung des Unternehmens nicht zurückschreckten. Der Rahmen gewöhnlicher Ermittlungen wurde mehrfach überschritten. Die Position des Konzerns auf den Märkten im In- und Ausland wurde geschwächt, als die Staatsanwaltschaft fast die Hälfte der Unternehmensaktien vorläufig beschlagnahmte. Noch schädlicher war die Erklärung des Ministers für Bodenschätze, dessen Behörde für die Vergabe von Förderlizenzen zuständig war, er könne sich eine weitere Zusammenarbeit mit Jukos nur schwer vorstellen. Die Verbindung, die Judikative und Exekutive in ihrem Vorgehen gegen den Mineralölkonzern eingehen, macht die Jukos-Affäre zu einem Politikum.

Die Jukos-Affäre und die Zukunft des politischen Systems

Das Untersuchungsverfahren gegen Jukos hat offensichtlich nicht nur eine strafrechtliche, es hat auch eine gesellschaftliche und eine politische Dimension. So sind die Fragen, die sich stellen, nicht nur rechtlicher Natur:

• Soweit zu übersehen, hat Jukos nicht anders gehandelt als andere große russische Unternehmen. Die Motive dafür, daß die Justizbehörden gerade diesen Mineralölkonzern herausgegriffen haben, sind offensichtlich politischer Natur. Als Grund wird beispielsweise genannt, daß Jukos-Chef Chodorkowskij politisch agiert und offen oppositionelle Kräfte unterstützt. Es mag auch eine Rolle spielen, daß Jukos auf dem besten Wege ist, von einem nationalen zu einem internationalen Konzern zu werden – eine Entwicklung, die bei Politikern, die traditionellem, sowjetischen Autarkiedenken verhaftet sind, Ängste auslöst. Auch die Sorge, daß sich Jukos zu einem übermächtigen, durch die politische Führung nicht mehr kontrollierbaren Akteur entwickelt, kann ein Motiv sein. In jedem Fall haben wir es aber mit einer politischen Instrumentalisierung von Recht zu tun.

• Es ist unklar, wer eigentlich das Verfahren gegen Jukos betreibt. Gewiss wird es von der Generalstaatsanwaltschaft geführt, die dazu Hilfe von Finanz- und Lizenzierungsbehörden in Anspruch nimmt. Aber offenbar spielen auch Kräfte im Umfeld des Präsidenten eine Rolle. Die russische Presse nennt den „Tschekisten-Clan“, also die ehemaligen Geheimdienstler in der Präsidialadministration, als Anstifter des Angriffs auf Jukos. Einer von ihnen, Viktor Iwanow, soll die Veröffentlichung des Angriffs auf die „Oligarchen“ durch den „Rat für nationale Strategie“ initiiert haben. In diesem Fall wäre das Untersuchungsverfahren Teil einer politischen Kampagne, die sich nicht allein gegen Chodorkowskij richtet, sondern gegen eine Gruppe von Großunternehmern. Auch die Ablösung Alexander Woloschins, des Leiters der Präsidialadministration, deutet auf einen Machtzugewinn antiliberaler Kräfte hin. Manche russischen Beobachter interpretieren die Demontage von Jukos gewissermaßen als „Kollateralschaden“ eines Konfliktes, in dem der Jelzin-Clan („die Familie“) endgültig von der Macht verdrängt wurde, so daß nun nur noch „Petersburger Liberale“ und „Tschekisten“ miteinander konkurrieren. Solche Erwägungen bleiben notwendig Spekulation. Bedenklich stimmt, daß politische Entscheidungen durch eine Hofkamarilla privatisiert werden und keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen.

• Der Angriff auf Chodorkowskij hat schließlich auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Er instrumentalisiert die Abneigung gegenüber „den Reichen“ und mobilisiert zudem antisemitische Ressentiments. Nach dem „fünften Punkt“ im sowjetischen Pass, der die ethnische Herkunft angibt, sind Gusinskij, Beresowskij und Chodorkowskij jüdischer Nationalität. Äußerungen aus den Sicherheitsorganen, die in den russischen Medien wiedergegeben werden, deuten auf Antisemitismus als zusätzliches Motiv für das Vorgehen gegen Jukos hin. Ein solches Anheizen von Vorurteilen bringt Putin und seiner Administration möglicherweise verstärkten Rückhalt in nationalkonservativen Kreisen ein, doch es ist gewiss nicht geeignet, eine demokratische und zivilgesellschaftliche Entwicklung in Russland zu fördern. Das Vorgehen der russischen Behörden gegen den Jukos- Konzern gibt also zu Besorgnis Anlas, nicht nur wegen der Schwächung eines leistungsfähigen Unternehmens und der Verunsicherung möglicher Investoren, sondern auch wegen der antiliberalen Tendenzen, die im Verfahren gegen Jukos sichtbar werden.

Über den Autoren
Prof.Dr. Hans-Henning Schröder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen.

Lesetipp
Stefanie Harter, Jörn Grävingholt, Heiko Pleines, Hans-Henning Schröder: Geschäfte mit der Macht. Wirtschaftseliten als politische Akteure im Russland der Transformationsjahre 1992-2001, Edition Temmen (Bremen) 2003. © 2003 by Forschungsstelle Osteuropa, Bremen
Aus: Russlandanalysen. Nr. 6 vom 21.11.2003.
Mit freundlicher Genehmigung des Publikationsreferates der Forschungsstelle Osteuropa

E-Mail: publikationsreferat@osteuropa.uni-bremen.de
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