Nehmen wir an, Sie leben in der Ostukraine. Sie fühlen sich russisch. Es ist nicht Ihr „Blut“. Es ist Ihre Sprache, die Kultur, Ihr Selbstverständnis. Sie wurden in der Sowjetunion geboren, wo es als Russe auch nicht so erheblich war, ob Sie nun in deren russischem oder einem anderen Teil leben. Man war Russe von der Nation und Sowjetbürger von der Nationalität. Nun leben Sie 20 Jahre außerhalb von Russland, in der eigenständigen Ukraine. Dadurch haben Sie aber nicht aufgehört, russisch zu sein. Aber über die meiste Zeit ihres Bestehens war gerade in der Ukraine das beherrschende Element der Ausgleich zwischen der ukrainischen Seite im Westen und der russischen im Osten.
Sie haben dabei die Westukraine immer als etwas von sich verschiedenes wahr genommen. Im gleichen Land, aber doch verschieden. Während bei Ihnen die Helden des Zweiten Weltkriegs auf sowjetischer Seite verehrt werden, verehrt man im Westen Banderas, der phasenweise an der Seite Hitlers, aber immer gegen die Rote Armee gekämpft hat. Während früher bei Ihnen die Veteranen der Roten Armee Paraden abhielten, waren es im Westen die der Ukrainischen Heimatarmee oder SS. Sie denken deshalb natürlich nicht, dass im Westen alle Fanatiker sind. Aber was politisch zu Ihnen von dort dringt, gefällt Ihnen oft nicht.
Sie haben letztes Mal für Janukowitsch gestimmt. Nicht, weil Sie davon überzeugt waren, nur weil Sie Timoschenko, die Sie als ehemalige Bewohnerin des Ostens und „Gasprinzessin“ auch gut kennen, für das Gleiche in schlimmer gehalten haben. „Sie verrät den Osten schneller für ihre eigenen Ziele“ haben Sie damals gedacht. Nun unterstützen Sie keinen Janukowitsch mehr. Sie mögen selbst keine Korruption und Prunksucht und ärgern sich über Ihre damalige Stimme. Aber er war immer der einzige, der offen als Ihr Fürsprecher für eine ausgewogene Politik mit dem russischen Osten gestanden hat. Der ein Gesetz zum Schutz der Sprache Ihres Volkes in der Ukraine initiiert hat. Der wusste, dass in Ihrer Heimat seine Wählerstimmen liegen und er etwas für Sie tun muss. Natürlich sind Sie auch für gute Beziehungen mit dem Ausland. Sie waren nicht gegen eine Zusammenarbeit Ihres Landes mit der EU. Dennoch sind Sie mehr mit Russland verbunden, Sie haben vielleicht sogar Verwandte dort, wie viele in Ihrer Gegend. Oder Bekannte sind nach dort zum Arbeiten, weil es gute Jobs gab in einer großen Stadt. An Russland gefällt Ihnen auch der relative Wohlstand seit dem Millennium, verglichen mit Ihrer Heimat. Sie erlebten Russland an sich nicht negativ, es gab Rabatte für Gas und anderes, gemeinsame Projekte über die Grenze hinweg, Finanzhilfen. Demokratie herrscht dort nicht so richtig, aber in der Ukraine auch nicht, früher in der Sowjetunion noch viel weniger und im Gegensatz zur Ukraine haben in Russland wenigstens die Oligarchen, die sich am Staat nur bedienen, politisch nicht mehr viel zu melden.
Daheim in der Ukraine waren Sie in den letzten Jahren nicht besonders glücklich. Zwar hindert Sie niemand daran Russisch zu sprechen. Aber jedes Jahr gibt es weniger russische Schulen. Es gibt keine russischsprachige Universität, nicht mal in Gegenden, wo 80 % der Leute russische Muttersprachler sind. Nach der orangenen Revolution haben Sie schon einmal eine Regierung erlebt, die alles Offizielle nur noch auf Ukrainisch verkündet. Die mit anti-russischer Rhetorik glänzt. Gefallen hat Ihnen das nicht. Seitdem ist auch alles recht chaotisch. Die orangene Regierung zerbrach recht schnell, danach gab es immer wieder Wahlen, der Lebensstandard sinkt seitdem dauernd. Neue Regierungen machten neue Versprechen, aber nichts Positives tat sich, auch nicht unter Janukowitsch. Sie sind unzufrieden, denn Ihre Heimatregion gilt sich selbst als der produzierende Teil der Ukraine, der industrielle, der produktive Teil. Der, der etwas schafft. Viele sagen, die im Westen verbrauchen nur unsere Steuern. Währenddessen hören Sie von Leuten aus dem Westen, Sie seien keine echten Ukrainer. Aber auch Janukowitsch, Ihr Fürsprecher in der Politik, hat sich bei Ihren Steuern nur bedient, nur verbraucht und nichts zur Besserung des Landes geschaffen. Sie sehen generelle Selbstbedienung in der ukrainischen Politik.
So sehen Sie ihren Wohlstand zerfließen und plötzlich in der Hauptstadt Kiew das Chaos auf dem Euromaidan. Dann stürzt Janukowitsch. Sie sehen, auf dem Maidan sind gerade die aktiv, die Sie schon Jahre zuvor nicht verstanden, die Sie nicht als echten Ukrainer akzeptieren, die der Tradition von Banderas offen folgen, die den ukrainischen Osten wie alles Russische hassen. Sie haben sich verbündet mit denen, die vor Jahren die orangene Revolution initiierten, die auch keine Verbesserung brachte, nur Streit, Phrasen, einen Niedergang des Wohlstandes und eine Schwächung Ihrer Muttersprache. Für Sie wurde beim Euromaidan eine schlechtere Regierung gewaltsame durch eine katastrophale vertrieben. Katastrophal für Ihre Heimat und Ihr Volk. Mit Russland haben die sich gleich überworfen, der Gasrabatt ist weg, bald wird für Sie alles teurer.
Nun glauben Sie das, wovon andere schon sprachen, Sie aber immer skeptisch waren. Eine Verschwörung von Oligarchen und Nationalisten. „Euromaidaner“ nennen all Ihre Bekannten die neue Regierung. Alles, was in Kiew geschieht, sieht für Sie so aus. Leute mit Nazi-Runen patroullieren auf den Straßen von Kiew – die Nachfolger derer, gegen die Ihr Vater oder Großvater sein Land verteidigt hat. Das russische Fernsehen, dem Sie schon immer etwas misstraut hatten, hat doch recht. Deshalb haben es die „Euromaidaner“ jetzt auch im Kabelnetz abgestellt, damit Sie die Wahrheit nicht mehr erfahren. Die Euromaidaner zögern nicht, ihren wahren Charakter zu beweisen. Gleich am Tag nach ihrer Machtergreifung haben sie das von Janukowitsch geschaffene Gesetz über den Schutz der russischen Sprache in Ihrer Heimat außer Kraft gesetzt. Sie löschen die russischsprachigen Versionen von immer mehr Regierungsseiten. Sie wissen, die hassen die Russen, die hassen Sie, die sind an der Macht. Doch damit nicht genug.
Sie dringen auch in Ihre Heimat vor. Plötzlich hat Ihre Region einen neuen Gouverneur, einen Anhänger der Euromaidaner. Den hat man direkt aus Kiew ernannt anstelle des alten aus der Janukowitsch-Partei. Obwohl hier fast niemand einen Euromaidaner als Gouverneur will. Der alte ist vielleicht sogar gleich verhaftet worden, vielleicht wegen Korruption. Wer ist denn hier nicht korrupt in diesem Land, werden Sie denken. Dann bekommen Sie auch einen neuen Bürgermeister, einen neuen Polizeichef, der aus der Westukraine kommt und Ihre Muttersprache kaum versteht. Sie hören, sogar der Leiter der Universität wäre ausgetauscht worden. Sie schauen in die Zeitungen und TV-Kanäle aus Kiew, die über alles berichten, als ob es gut wäre. Sie wissen, dass es nicht gut ist und werden das folgende Gerede über eine neue Meinungsfreiheit kaum glauben. Denn Sie merken, dass nur in eine neue Richtung berichtet wird. Von Journalisten, die ihr Fähnchen rechtzeitig in den richtigen Wind hängen.
Sie bemerken eine wachsende Unzufriedenheit überall um sich herum, viele reden davon, dass man es doch bei Russland besser hätte. Zwar auch keine größere Freiheit, aber mehr Wohlstand und wieder einen Platz in der echten Heimat. In der Stadt demonstrieren viele, die Sie kennen schon für eine Loslösung Ihrer Heimat von der Ukraine. Die ersten ihrer Anführer wurden nun schon von den „Euromaidanern“ verhaftet und nach Kiew verschleppt, bevor sie von ihren Landsleuten wieder befreit werden konnten. Von wegen Demokratie! Die sind doch nicht besser als die Sowjets damals. Eher schlimmer. Das sind wirklich Nazis!
Dann hören Sie von der Krim. Die dortige Regierung wurde nicht von Kiew ausgetauscht, es kamen aus den Reihen der dortigen Politiker neue Anführer. Die von der Ukraine weg wollen, zurück nach Russland. Plötzlich tauchen überall auf der Krim unbekannte Soldaten auf. Sie kennen Russland sehr gut. Sie wissen, dass das russische Soldaten sind. Wenn Putin etwas anderes behauptet, ist er ein Fuchs, aber schlau gemacht. Gegen Ihren Willen spüren sie Bewunderung, obwohl sie von der Politik generell wenig halten, auch von der russischen. Ein paar Wochen später gehört die Krim nicht mehr zur Ukraine. Es funktioniert. Sie hören von Empörung im westlichen Ausland, von Reisebeschränkungen für ein paar Politiker. Das ist Ihnen doch völlig egal. Sie haben doch gar kein Geld ins Ausland zu fahren. Noch nicht.
Sie hatten sich immer zurück gehalten. Aber jetzt gehen Sie mit Ihrem Bekannten auf die Straße, zur prorussischen Demo. Sie schreien mit den anderen im Chor: „Russland! Russland! Putin! Putin!“
Inspiriert von ein Text von Sergej Gurkin, Sankt Petersburg
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