Der blumige erste September. An diesem Tag gehen in ganz Russland alle schulpflichtigen Kinder in die Schule.

„Wann gehen die deutschen Kinder nach den Sommerferien in die Schule?“ Diese aus russischer Sicht ganz simple Frage, die mir meine russischen Freunde oft stellen, kann ich ja gar nicht beantworten. In welchem Bundesland? Dieses oder nächstes Jahr?

Im Unterschied zu Deutschland, wo die Schulpolitik die Sache der Bundesländer ist, wird in Russland alles zentral geregelt. Schon 1935 hat man auf dem ganzen Gebiet der Sowjetunion den einheitlichen Schulbeginn eigeführt. Auch im heutigen Russland ist der 1. September der offizielle erste Schultag im ganzen Land.

Dieser Tag wird traditionell sehr feierlich begangen. Alle Schüler versammeln sich im Schulhof, und die Erstklässler werden begrüßt. Das dreigliedrige deutsche Schulsystem ist in Russland unbekannt, und die Grundschule und die Mittel- und Oberstufe befinden sich unter einem Dach. Außerdem gehen die Schüler während ihrer ganzen Schullaufbahn (entweder neun, oder elf Jahre wenn sie Abitur machen) in eine Klasse. Also trägt an diesem „Tag des Wissens“, wie der erste September offiziell im Kalender heißt, ein Schüler der 11. Klasse eine Schülerin der ersten Klasse auf den Schultern. Die kleine Erstklässlerin hält eine symbolische Glocke in der Hand. Sie darf damit zur ersten Unterrichtsstunde läuten. Diese oder ähnliche Szenen spielen sich praktisch in allen Schulen des Landes am 1. September ab. Die Feier heißt sogar im Volksmund „das erste Klingeln“.

Die Tradition mit den Schultüten kennt man in Russland nicht. Doch natürlich gehen die Erstklässler nicht mit leeren Händen in die Schule, sondern mit Blumen. Der 1. September ist neben dem 08. März (dem internationale Frauentag, der in Russland richtig bombastisch gefeiert wird) der Lieblingstag der Blumenverkäufer. Die Preise für Blumensträuße schießen ins Astronomische. Und dieses Jahr werden die Blumen, wegen den Gegensanktionen gegen die Niederlanden, so teuer sein, dass sich einigen Familien kaum leisten können, ihr Kind mit dem obligatorischen Strauß auszustatten. Viele Eltern haben auf ihren Datschen sogar extra Blumenbeete, wo sie Gladiolen oder Dahlie züchten, um so Geld für den Blumenstrauß zu sparen.

Laut der Nachrichtenagentur Interfax werden über 1,5 Millionen russische Kinder dieses Jahr eingeschult. Dabei wird nicht nur von den Erstklässlern, sondern auch von den Schulabsolventen erwartet, dass sie ihren Lehrern Blumen schenken. An diesem Tag verwandeln sich die Schulen in ein regelrechtes Blumenmeer. Doch nur ein Zehntel der Sträuße nehmen die Lehrer mit nach Hause, der Rest verwelkt in den Lehrerzimmern. „Wir essen die Blumen gar nicht“, scherzt die russische Lehrerschaft. Doch alles vergebens. Tonnen von Blumen werden gekauft und verschenkt. Voriges Jahr hat eine Moskauer Lehrerin via Facebook vorgeschlagen, statt riesige Geldsummen für tote Blumen ausgeben, dieses Geld für wohltätige Projekte zu spenden. Ihre Initiative wurde sehr aktiv in sozialen Netzwerken diskutiert und unterstützt. Schüler von 26 Moskauer Schulen haben so fast 500000 Rubel für ein Kinderhospiz gesammelt. Dieses Jahr wollen noch mehr Moskauer Lehrer die Idee „Ein Blumenstrauß für die ganze Klasse“ unterstützen. Die größte russische Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ hat auf Ihren Seiten an alle Eltern und Lehrer appelliert, mitzumachen. Doch zu einem bahnbrechenden Trend ist die Initiative noch nicht geworden. Denn sogar Kinderpsychologen raten, die Erstklässler sollten bei der Einschulung Blumen in der Hand haben. Zu groß ist die Angst, dass das Kind sich als ein Außenseiter fühlen würde, wenn es ohne einen obligatorischen Strauß zu seinem ersten Schultag kommt.

Doch vielleicht wird im nächsten Jahr alles anders sein. Der Berater von Präsident Putin Igor Levitin hat vor kurzem angedacht, man solle den Schulbeginn verschieben, z.B. auf den 15. September. Das würde den inländischen Tourismus fördern, denn Anfang September sei das Wetter in Sotschi oder auf der Krim noch sehr schön. Dabei beruf er sich auf die Erfahrungen in vielen europäischen Ländern. Interessant, dass der russische Politiker dabei gar nicht daran dachte, den Schulbeginn in verschiedenen Regionen zu unterschiedlichen Terminen einzuführen wie z.B. in Deutschland. In Russland muss alles doch zentral geregelt werden.

Allerdings stieß sein Vorschlag eher auf ein geteiltes Echo. Denn die meisten Russen können sich gar nicht vorstellen, auf den traditionsreichen 1. September zu verzichten.

Daria Boll-Palievskaya – russland.RU

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