Das Testament Peters des Großen eine Erfindung Napoleons I.

Das Testament Peters des Großen eine Erfindung Napoleons I.

Aus: Russische Revue. Monatsschrift für die Kunde Russlands. Band X

Autor: Von G. Berkholz,

Erscheinungsjahr: 1877

Es gab eine Zeit, wo man es sich angelegen sein lies, Europa mit Vergrößerungsprojekten Russlands zu ängstigen, wo es gebräuchlich war, die Welt mit dem angeblichen Programm einer Weltherrschaft zu schrecken, einem Programm, welches unter dem Namen „Das Testament Peters des Großen“ bekannt war und von dem großen Reformator des Zarenreichs seinen Nachfolgern hinterlassen worden sein sollte. Viele Journale und politische Pamphlete haben dieses Schriftstück reproduziert, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre seine Authentizität selbst von Autoren ernster und gewissenhaft redigierter Werke als eine unzweifelhafte Tatsache anerkannt worden.

*) Man hätte glauben sollen, dass die absurde Fabel vom „Testament Peters des Großen“ nach den mannigfachen Abweisungen, welche sie erfahren hat, endlich ad acta gelegt worden wäre. Aber sie erscheint nichtsdestoweniger zu Zeiten noch immer wieder, wie die berühmte Seeschlange, und veranlasst dann „zünftige und unzünftige Politiker“ zu den kühnsten und gewagtesten, nur leider haltlosen Kombinationen. Wenn es nun auch nach dem Dementi, welches diese Fabel noch vor ganz Kurzem von höchster Stelle erfahren hat (wir verweisen auf die Depesche des Lord Loftus vom 2 November), mehr als überflüssig erscheinen muss, den Nachweis zu führen, dass dieses „Testament“ in Wirklichkeit niemals existiert hat, so dürfte es doch gerade jetzt nicht unzweckmäßig sein, noch einmal den Nachweis aufzufrischen, wie jenes „Testament“ entstanden ist. Wir sagen: aufzufrischen, denn geführt ist dieser Nachweis bereits vor 13 Jahren. Es scheint aber, als wenn die im Jahre 1863 von Hrn. Dr. Berkholz (Stadtbibliothekar in Riga) veröffentlichte Broschüre: „Napoleon I auteur du testament de Pierre le Grand“ nicht die Verbreitung gefunden hat, welche sie beanspruchen durfte, und so haben wir den Hrn. Verfasser um die Erlaubnis gebeten, dieselbe unseren Lesern in deutscher Übersetzung vorführen zu dürfen. Die Red.

Wenn wir nun in Folgendem den Beweis dafür zu liefern suchen, dass das „Testament Peters des Großen“ apokryph ist, so wollen wir damit keineswegs in die Diskussion einer politischen Frage eintreten, für uns handelt es sich nur darum, eine dunkle Stelle in der modernen Geschichte aufzuhellen, ein Problem zu lösen, welches uns die Literatur aus dem Anfang dieses Jahrhunderts hinterlassen hat; wir wollen unseren Lesern nur beweisen, dass auch in unseren Tagen die schöpferische Kraft der menschlichen Phantasie noch nicht versiegt ist, welche ja zu allen Zeiten die Quelle so vieler, von den Chronisten verzeichneten Fabeln war. Was wir dem Leser bieten, ist bloß die Kritik einer modernen Mythe, welche wir zu erklären versuchen wollen, bevor sie als ein unantastbares Faktum der Geschichte anheimgefallen ist.
Die in Rede stehende Fabel ist nicht sehr alt, sie datiert erst vom Jahre 1812. Zu dieser Zeit, wo die französische Regierung mit Russland Krieg führte, lag es in ihrem Interesse, das Gerücht glaubhaft zu machen, als ob ihr mächtiger Gegner an die Realisation des Projekts einer Weltherrschaft dächte, welches ihm von der Tradition überliefert, und dessen Ausführung mit der Ruhe des übrigen Europas unverträglich sei. Ein französischer Gelehrter, Attaché beim Departement der äußeren Angelegenheiten, übernahm zuerst die Aufgabe, eine solche Behauptung laut werden zu lassen. Zu diesem Zweck publizierte er ein Buch von über 500 Seiten, welches unter dem Schein eines ernsten historischen Werkes unschwer den Zweck einer politischen Flugschrift erkennen lässt. Dieses Buch trägt den Titel: „Des progrès de la puissance russe, depuis son origine jusqu’au commencement du XIX siècle“. Paris, 1812, par M. L. Unter dem Buchstaben L. verbirgt sich der Name eines Hrn. Lesur, wie er es selbst in dem Vorwort zu einem anderen Werke, seiner „Histoire des Cosaques“, Paris, 1814, einräumt.

In dieser Vorrede sagt Lesur, dass die französische Regierung ihn im Anfang des Jahres 1813 um die Abfassung der Geschichte der Kosaken ersucht“ („demandée“) hätte, was uns wohl zur Annahme berechtigt, das 1812 publizierte Werk sei ebenfalls bestellt worden. Etwaige Zweifel, welche in dieser Hinsicht bestehen könnten, werden durch das neuerdings veröffentlichte Tagebuch eines Engländers, des Generals Sir Robert Wilson*) vollständig beseitigt.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Das-Testament-Peters-des-Grossen-eine-Erfindung-Napoleons-I

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