Das schwarze Pferd

[Erzählung von Hanns-Martin Wietek] Rings um mich eine weite, unendlich erscheinende Ebene. Eine endlose Landschaft, eine russische, die den Menschen auf seine wahre Größe zusammenschrumpfen lässt, eine Landschaft, in der man nur überleben kann, wenn man sich unterordnet, wenn man eins wird mit der Natur.

Es tauchen Gestalten auf in dem immer näher kommenden verschwimmenden Horizont. Ach ja, s’ist Lew Nikolajewitsch, der mit wie immer zerzaustem Bart zu den drei Holzhäusern schlendert. Schön sind sie, mit grüner Farbe, reichlich geschnitzte Fensterrahmen – ja so kenne ich Tolstoi von vielen Photographien. Jetzt sehe ich, ein schwarzes, stämmiges Pferd mit einem großen Kummet, einen Bauernwagen hinter sich herziehend, grast zwischen den Blockhäusern.

Schön wär‘, wenn mein zwillingshafter Vorfahr – oder bin ich‘s selbst – Pjotr Alexejewitsch auftauchte. Es war lustig, als uns die Leute verwechselten und „Kropotkin, Kropotkin“ riefen, als ich kam, „Pjotr Alexejewitsch ist wieder da!“ Vielleicht ist’s besser so, er holte mich sonst heim.

In der leichten weiten Senke vor mir, zieht eine Herde von winzigen Kühen gemächlich vorbei, es dauert lange bis sie meinem Blick entschwinden. Keine Laute, nur das ständige leise Rauschen des Windes. Schön wär’s, sich einfach aufzulösen und mit dem Wind zu verwehen.
Wer wird noch kommen, mich heimzuholen? Kommt! Kommt alle.

Aber etwas stört. Die Birken! Wo sind die Birken? Das kann Russland nicht sein! Die russischen Weiten mit meinen geliebten Birkenwäldern. Und doch ist’s Russland – Weißrussland!

Die Nebelfetzen lösen sich auf, Lew Nikolajewitsch nickt mir noch einmal zu und verschwindet mit traurigem Gesicht. Aber warum traurig?

Und jenseits der Senke das größte Naturreservat der Welt. Hör ich Posaunen? Fast 1400 km2 und keine Posaunen?! In dem riesigen Gebiet keine Menschen! Niemand, der den Bäumen sagt, wie sie wachsen sollen! Niemand, der das Gras für zu lang befindet! Der zu den Pflanzen sagt ‚du sollst leben du musst sterben‘. Umgekehrt, die Pflanzen befinden über Tod und Leben des von Menschenhand Geschaffenen.

Und erst die Tiere! Es muss eine Neuauflage des Paradieses sein! Tierarten, die sich längst von den Menschen, von hier, verabschiedet hatten. Große und kleine. Bisons, Elche, Wölfe, Urpferde, auch Bären! Sie alle kennen die Spezies ‚Mensch‘ nicht. Vogelarten, von denen man glaubte, sie seien fast ausgestorben; Insekten, Schlangen, Gewürm – alles feiert scheint’s paradiesische Urstände!

Wo bleiben die Posaunen! HÖR‘ ICH IMMER NOCH KEINE POSAUNEN?

Und es kommt ein kläglich furzender Ton der großen Basstuba.

Ja, jenseits der Senke liegt das größte Naturreservat der Welt – aber es ist für Menschen das Reservat des Todes. Es ist das »Staatliche Radioökologische Reservat Polesie (Polesie State Radioecological Reserve)«.

Was die Wenigsten wissen: Der Super-GAU in Tschernobyl hat in der Ukraine „nur“ einen Umkreis mit dem Radius 30 km vernichtet und auf ewige Zeiten verstrahlt und für Menschen unbenutzbar gemacht. Der Wind kam damals aus dem Süden, hat die Wolken nach Weißrussland getrieben und im Süden (benachbart zu Tschernobyl) und im Osten Weißrusslands weite Gebiete verstrahlt. Das «Reservat Polesie« ist eines der am schlimmsten betroffenen. Dort wurden über 20.000 Menschen evakuiert. Zutritt nur nach besonderer Erlaubnis und dann nur mit Führern und zu bestimmten Zeiten und Wetterlagen und nur für eine bestimmte Dauer. Und selbstverständlich auf eigene Verantwortung. Und doch werden es immer mehr, die sich mit Selfies den besonderen „Kick des Todes“ holen wollen.

Auch ich wollte in die „Todeszone“. Nicht um des Kickes Willen, sondern weil ich sehen wollte, wie sich Tier- und Pflanzenwelt für die von Menschen erlittene Schmach rächen. Und außerdem wollte ich mit den Menschen, die benachbart zum Reservat leben, sprechen.

In Mazyr gelangte „der deutsche Journalist“ ganz schnell zum Chef des Ministeriums Abteilung usw., was nur soweit half, als dass wir eine weitere Adresse bekamen. Schlussendlich: zurzeit kein Zutritt (aber vielleicht werde vor Ort anders entschieden), da die Strahlenbelastung in der Luft 12-mal höher als für das Gebiet erlaubt ist. Es war gerade eine lange Trockenperiode, der Fluss Pripiat, der sonst gewaltig breit ist, war zu einem Rinnsal geworden, durch das man hindurchwaten konnte. Der radioaktive Staub vom Boden schwebte in der Luft.

Im Dorf Beresowka, etwa 20 km vor dem Reservat, suchten wir Anschluss. Zu den mir auf den Nägeln brennenden Fragen gab es eigentlich nur lakonische Antworten wie „das ist lange vorbei“, „wir haben uns daran gewöhnt“, „was sollen wir klagen“, „Schade nur, dass die jungen Leute alle in die Stadt gezogen sind“. „Wir sind der Heimat verbunden und haben unseren Heimatverein – das Leben ist schön“ und wir kamen in den Genuss (keine Ironie) weißrussischen Brauchtums.

Mein Wunsch sollte auch in Erfüllung gehen, denn eine der Anwesenden arbeitet dort bei der Verwaltung des Reservats und kannte alle (Schleich)wege, wie man auch ohne Kontrolle hineinkommt. Wir fuhren zur „Grenze“, dort standen drei grüne russische Holzhäuser mit verzierten Fensterrahmen und ein schwarzes Pferd mit großem Kummet, einen Wagen hinter sich herziehend, graste zwischen den Häusern.

Wie es sich gehört, wurde aufgefahren, was immer Keller und Küche aufbot, die Trinksprüche, angefangen bei einem Spruch auf die Frauen über die deutsch-russische Freundschaft bis auf deutsche Journalisten und vieles mehr nahmen, unterbrochen von unzähligen Liedern auf die Heimat, die Liebe und die Trauer, kein Ende.

Es wurde später und später und mir blieb nur noch ein Blick.
(Hanns-Martin Wietek/russland.ru)

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