Baby Boom in China – eine Bedrohung für Russland?

Die chinesischen Raketen sind vielleicht nicht das, was in Russland in erster Linie Sorgen hervorrufen sollte. „Republic“ macht sich Gedanken über die möglichen Folgen der fortschreitenden Bevölkerungsdichte in China.

Die Meldung von der Stationierung chinesischer Atomwaffen nahe der russischen Grenze klang dermaßen bedrohlich, dass sie eine andere, viel friedlichere Nachricht in den Schatten stellte: Im vergangenen Jahr wurden in China 16,86 Millionen Kinder geboren – 1,4 Millionen mehr als 2015. Das ist die vorläufige Bilanz der Absage Pekings an die Ein-Kind-Politik, die vom Ende der 1970er Jahre bis Januar 2016 galt. Das chinesische Gesundheitsministerium macht aus seiner Freude keinen Hehl: „Obwohl die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter um fünf Millionen gesunken ist, ist die Geburtenrate deutlich gestiegen.“ Offensichtlich steht China an der Schwelle eines erneuten demografischen Aufschwungs. Wie wird sich das auf Russland auswirken?

Dichte

Von den Diskussionen über eine wachsende demografische Bedrohung von Seiten Chinas kann man leicht Abstand nehmen und sie als Panikmache abtun. German Dudtschenko, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fernost-Institut für Geschichte bei der Russischen Akademie der Wissenschaften, hatte seinerzeit angemerkt, dass die Frage der Bevölkerungsdichte, die mit der Floskel „hier ist es leer und dort überfüllt“ bezeichnet werden kann, auch an anderen Orten anzutreffen ist – an der Grenze von Kanada zu den USA, von Pakistan und Afghanistan, von Niger und Nigeria. Nirgends schafft das gefährliche Spannungen zwischen den Nachbarn. Auch gibt es keine exakte Definition für die „Sicherheitsschwelle“: Wie muss die Relation der Bevölkerungsdichte in Grenzregionen aussehen, um ein Problem darzustellen? Auch die Berechnungen dieser Dichte selbst sind nicht immer korrekt, da sie nicht die Unterschiede in Fläche und Konfiguration der Grenzterritorien berücksichtigen (aber es werden doch Versuche unternommen, den Unterschied im demografischen Potential zu bewerten, und dafür werden unter anderem die Möglichkeiten der Satelliten-Kartografie genutzt).

Bedeutet dies, dass die Migration in China sich auf kontrolliertem Niveau befindet und ihr Anwachsen pure Einbildung ist? Es ist nicht einfach, sich aus den offiziellen Quellen ein Bild von der realen Dynamik der chinesischen Migration nach Russland zu machen. Eine Untersuchung des Woodrow-Wilson-Wissenschaftszentrums zeigt auf, dass die Verzerrung der Daten über Chinesen in Russland selbst für ein Land zu groß ist, das bekannt ist für seine statistischen Anomalien. 2000 sprach Alexander Schaikin, Leiter des Departments für Grenzkontrolle beim Föderalen Grenzdienst, von einer „stillen Expansion“ der Chinesen. Angeblich sprach der Beamte über den illegalen Grenzübertritt von anderthalb Millionen Chinesen in den 18 vorangegangenen Monaten, aber diese Zahl konnte nicht bestätigt werden. Nach Berechnungen des Zentrums für Erforschung und Prognose der russisch-chinesischen Beziehungen beim Fernost-Institut für Geschichte, die auf der Statistik der Grenzdienste des FSB basieren, machte 2000-2012 der Überschuss der Einreise gegenüber der Ausreise 181.600 Bürger der Volksrepublik China aus. Das ist vergleichbar mit der Bevölkerung einer mittelgroßen Stadt in Fernost, zum Beispiel Blagowestschensk. Alexander Larin, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums, merkt an: „Die Zahl der chinesischen Migranten nimmt mit der Zeit zu.“

Die bekannte Forscherin Schanna Sajontschkowskaja vom Institut für Volkswirtschafts-Prognose bei der Russischen Akademie der Wissenschaften ist der Ansicht, das chinesische Problem würde systematisch totgeschwiegen werden. 2012 schätzte sie die Zahl der Arbeitslosen in China auf 200 Millionen ein (davon 120 bis 130 Millionen auf Wanderschaft). Nach Angaben des Nationalen Statistikbüros von China hatten damals 50 Prozent von 2,68 Bewohnern der nordöstlichen Provinzen Arbeit (berechnet nach einem Haushalt). Dabei sah selbst der offizielle Fünfjahresplan zur Entwicklung der Region (2011-2015) ein kleines Ansteigen der registrierten Arbeitslosigkeit vor. So machte die Arbeitslosigkeit im Autonomen Gebiet Innere Mongolei 2014 nicht sehr hohe 3,6 Prozent aus, doch bald darauf wurde dieses wichtige Bergbaugebiet einer planmäßigen Verringerung der Fördermengen unterworfen (etwa 5.000 Gruben des Landes oder 48 Prozent ihrer Gesamtzahl wurden entweder geschlossen, oder die Produktion wurde angehalten). Mehr als 100.000 Bewohner der Inneren Mongolei wurden arbeitslos. Parallel führt der Staatsrat der Volksrepublik China eine umfangreiche Restrukturierung in der Metallurgie durch, und auch hier hat das schwere Folgen für den Arbeitsmarkt. All dies wirkt sich auf die eine oder andere Weise auf den Willen zur Migration aus.

Unterdessen sprechen die Daten des Föderalen Migrationsdienstes von weniger als 10.000 Chinesen, die 2015 nach Russland einreisten (die Zahl der Ausreisenden liegt höher). Kaum haben diese Zahlen etwas gemeinsam mit den Bewertungen, von denen die Verfasser von Prognosen ausgehen, die bis 2050 sieben oder gar mehr als zehn Millionen Chinesen in Russland erwarten. Sollten sich diese Berechnungen bewahrheiten, hätten die Chinesen alle Chancen, die zweitgrößte ethnische Gruppe im Lande zu werden.

Boden

Die ernsten ökologischen Probleme der Volksrepublik sind seit Langem gut bekannt. Die Verschmutzung des Bodens macht etwa 19,4 Prozent des Ackerlandes und 16,1 Prozent aller Böden im Land aus, hieß es in einem Rechenschaftsbericht des Pekinger Umweltschutzministeriums und des Ministeriums für Boden- und Naturressourcen. Per 2015 waren insgesamt 24 Millionen Hektar Boden verschmutzt – das waren 133 Prozent mehr als 2006. Laut einem im Frühjahr letzten Jahres veröffentlichten Plan der Regierung sollen die Böden intensiv gesäubert werden. Auf einen Hektar Land entfallen mehr als viermal so viel Düngemittel wie im Weltdurchschnitt. Bis 2020 soll der Umfang vergifteter Böden bis auf zehn Prozent reduziert werden, nach weiteren zehn Jahren auf fünf Prozent.

Aber bisher sind das nur Deklarationen. Außerdem erfordert die Umsetzung dieser Pläne Zeit und einen astronomischen Haushalt, vergleichbar vielleicht mit den milliardenschweren Investitionen in das Megaprojekt Seidenstraße. Eine andere und möglicherweise effektivere Art der Problemlösung wäre die Pacht von Land bei anderen Staaten. Laut der Untersuchung „Architecture of the global land acquisition system“ ist China weltführend beim „Import“ von fremdem Land, während Russland hier mehr als „Exporteur“ auftritt. Der russische Staat hofft, im Fernen Osten bis 2020 die Fläche der für die landwirtschaftliche Nutzung tauglichen Böden um 50 Prozent zu erhöhen. Aber der größte Teil davon ist immer noch verwahrlost, was einen jähen Kontrast zum Defizit an landwirtschaftlichen Nutzflächen auf der anderen Seite der Grenze darstellt. Nach Ansicht von „China Daily“ führt dieser Umstand die Chinesen in Versuchung.

Wasser

Doch für China und seine stetig wachsende Bevölkerung sind die Böden nicht das einzige Problem, dessen Lösung aus dem Ausland kommen könnte. Die reichen Wasserressourcen sind auf dem Territorium des Landes äußerst ungleichmäßig verteilt. In vielen Gebieten gibt es nicht genügend Wasser, wobei die nordwestlichen Provinzen am schlechtesten versorgt sind. Zu diesem Ungleichgewicht kommt das Anwachsen der Produktion und des Konsums von Reis, einer Kultur, deren Anbau viel Wasser erfordert (für ein Kilo Reis werden gemäß dem Institute for Water Education 3.000 Liter Wasser benötigt). Wenn in China 1960 noch 2,5 Millionen Tonnen Reis angebaut wurden, war es 2006 das 32-Fache.

Der eklatante Wassermangel und seine Verschmutzung zwingen die chinesischen Behörden dazu, voluminöse Projekte wie das Umleiten von Flüssen von Süden nach Norden anzuschieben (den Jangtse in das Becken des Gelben Flusses und des Hai He), deren Ausführung und ökologische Folgen nur schwer vorhersehbar sind. In dieser Situation ist Russland theoretisch bereit, Hilfe zu leisten. Die skandalöse Idee von Landwirtschaftsminister Alexander Tkatschow, überschüssiges Wasser vom Altai-Gebirge in die regenarme Provinz Xinjiang Uigur mit einer Bevölkerung von 21,8 Millionen Menschen zu liefern, wurde im letzten Jahr bei Verhandlungen mit dem chinesischen Amtskollegen Han Changfu aufs Tapet gebracht, fand aber keine Fortsetzung. Später erklärte der Minister, dass niemand vorhabe, das Projekt in nächster Zeit in Angriff zu nehmen. Die chinesische Seite äußerte in bester Tradition kein öffentliches Interesse an dem Angebot des russischen Beamten, macht sich aber sicher Gedanken über die strategischen Vorzüge dieses Planes.

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