Auswanderungswunsch: Die Zukunft läuft uns davon

Die Internetzeitung Gazeta.ru fragt sich, warum Russland die Jungen und Aktiven davonlaufen.

„Umfragen zeigen, dass zwischen zehn und zwanzig Prozent der Bürger Russlands den Wunsch verspüren, das Land zu verlassen. Nicht arg viel, will scheinen. Aber schlimm ist, dass die meisten davon aktive, junge und hochgebildete Menschen sind. Also die, die dem Land eigentlich helfen sollten, auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu sein.

Laut den Daten der alljährlichen Umfrage von WZIOM ist die Zahl derjenigen, die zum ständigen Aufenthalt ins Ausland ausreisen wollen, so niedrig wie noch nie im gesamten Beobachtungszeitraum seit 1991 und macht lediglich zehn Prozent der Befragten aus. Die Zahl derer, die diese Möglichkeit für sich nicht in Betracht ziehen, ist umgekehrt wesentlich gestiegen – von 70 Prozent 1991 auf die Rekordmarke von 89 Prozent in diesem Jahr.

Eine weitere interessante Tatsache: Unter denen, die für sich die Möglichkeit sehen, zu emigrieren, erklingen immer öfter Stimmen darüber, dass der Grund für diesen mutigen Schritt in der Politik der russischen Staatsmacht liegt. 2014 gab es diese Antwort noch gar nicht, heute sind es bereits 13 Prozent derer, die potentiell damit rechnen, das Land zu verlassen. Die materielle Komponente ist dabei nicht mehr so wichtig wie früher. In den vergangenen Jahren sprachen zwischen 40 und 5О Prozent vom „höheren Lebensstandard“, heute sind es nur 33 Prozent.

Die WZIOM-Zahlen kann man natürlich in dem Sinne interpretieren, dass bei den Russen ein nie gesehener Patriotismus erwacht ist und sie sich kein Leben im Westen mehr vorstellen können. Aber das ist wohl eine oberflächliche Erklärung.

In Wahrheit ist die Sache sehr viel komplizierter. Im vergangenen Jahr führte das Levada-Zentrum eine ähnliche Umfrage durch und erhielt Daten, die sich von WZIOM unterscheiden. Gemäß jenen Bewertungen lag der Prozentanteil derer, die positiv auf die Frage einer möglichen Emigration antworteten, fast doppelt so hoch: 19 Prozent sagten „Ja“ oder „Eher ja“ auf die Frage nach einem möglichen Wechsel der Heimat. Dabei geht es um Menschen, die die Grenzen der ehemaligen UdSSR überqueren wollen. Nach Angaben von Lewada ist das die höchste Prozentzahl seit 2013 und wesentlich mehr als zu Beginn der neunziger Jahre.

In dieser Umfrage standen unter den Gründen für eine mögliche Emigration ebenfalls ökonomische Anreize (höherer Lebensstandard) an erster Stelle, aber weiter folgten hauptsächlich politische Motivationen und die wirtschaftlichen Ungereimtheiten bei uns in Russland (also faktisch die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung). Die Befragten sprachen von dem Wunsch, den Kindern eine sichere Zukunft zu bieten, womit sie wohl meinen, in Russland sei diese Zukunft – gelinde gesagt – nebulös. Angesprochen wurde auch die politische Lage im Land, die schlechten Bedingungen für Unternehmer und der mangelnde Schutz gegen Beamtenwillkür.

Schwierig zu sagen, womit die Diskrepanz in den Daten der beiden soziologischen Dienste zu erklären ist. Kaum wird sich die Stimmung innerhalb eines Jahres so grundlegend geändert haben. Es liegt wohl eher an der Methodologie und Interpretation der von den Soziologen gewonnenen Daten.

Aber trotzdem bleibt die Frage: Diese zehn oder 19 Prozent – ist das viel? Nicht besonders, will scheinen, denn längst nicht jeder, der erklärt, er sei bereit zur Emigration, geht morgen die Koffer packen. „Im Prinzip bereit“ als Antwort auf die relativ unerwartete Frage der Soziologen bedeutet überhaupt nicht, dass der Mensch in ein paar Monaten in Deutschland auftaucht.

Eine andere Sache ist, dass Millionen Russen bereits ihre Wahl getroffen haben und nun jenseits der Grenzen unserer Heimat leben. Nach Angaben von Rossstat haben zwischen 1989 und 2015 etwa 4,5 Millionen Menschen Russland verlassen. Und der Strom versiegt immer noch nicht.

Im letzten Herbst haben die Experten des Komitees für Zivilinitiative (KGI) von Alexej Kudrin den Bericht „Emigration aus Russland am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ vorgelegt. Unter anderem verwiesen die Experten auf die Nichtübereinstimmung der formalen Statistik von Rossstat mit beispielsweise den Daten des deutschen Statistischen Bundesamtes. So schreiben die KGI-Experten zum Beispiel, 2011-2014 seien nach Angaben des Statistischen Bundesamtes etwas weniger als 97.000 Menschen nach Deutschland emigriert, während Rossstat von 16.300 spricht. Das erlaubte den Experten den Schluss, dass die Rossstat-Daten nicht korrekt sind und es notwendig ist, sie um das Drei- bis Vierfache nach oben zu korrigieren.

Schließlich ist die verborgene Emigration weit verbreitet, wenn jemand die Verbindungen mit Russland formal nicht aufkündigt, sondern zum Beispiel zum Studieren im Ausland weilt. Nach Beendigung des Studiums kann ihn nur wenig daran hindern, nicht nach Russland zurückzukehren und dabei die Staatsbürgerschaft zu behalten.

Die Experten vom KGI zogen einen weiteren interessanten Schluss, der darin besteht, dass meist Menschen mit Perspektive ausreisen: erfolgreiche, gebildete, junge Leute. „Den größten Anteil derjenigen, die für immer aus Russland emigrieren wollen, beobachten wir unter jungen Menschen mit Hochschulbildung und unter Personen mittleren Alters mit Uni-Abschluss; unter denen, die in den größten Städten (Moskau, St. Petersburg) und Großstädten mit 250.000 bis einer Million Einwohnern leben. Der höchste Level an Emigrationswille ist unter der studentischen Jugend auszumachen. Umgesetzt wird dieses Potential über die Ausreise zum Studium und zum Arbeiten“, schließen die Experten.

Also liegt das Problem nicht nur darin, dass irgendeine große Zahl an Menschen ausreist oder ausreisen will, sondern daran, dass diejenigen weggehen, von denen der Erfolg des ganzen Landes und die Entwicklungsperspektiven der Nationalökonomie abhängen.

Es ergibt sich ein Teufelskreis: Ausreisewilligkeit entsteht aus Gründen der Perspektivlosigkeit, und der Weggang dieser Menschen macht die Aussichten der Verbleibenden noch nebulöser.

Wenn die Einschätzungen des KGI nicht ausreichen oder es den Verdacht gibt, die Experten seien voreingenommen, kann man eine andere Analyse anführen, durchgeführt von einem Expertenzentrum von völlig anderer ideologischer Ausrichtung.

Der Russische akademische Fonds hat Sergej Schoigu Vorschläge für die Bereitstellung von Rückstellungen vom Armeedienst unterbreitet. In dem Brief wird außerdem betont, der Fonds sei besorgt über den jähen Anstieg der Emigrations-Ziffern unter jungen Menschen. Besondere Sorge rufe der Fakt hervor, dass in den letzten Jahren die Zahl derer gestiegen ist, die eine Green Card bekommen wollen, die zur Ausreise in die USA berechtigt. Nach Angaben des Fonds kamen 2015 mehr als 265.000 Teilnehmer an diesem Programm aus Russland. Um diese Tendenz aufzuhalten, schlägt der Fonds vor, mehreren Kategorien junger Menschen die Ausreise zu verbieten, etwa Hochschulabsolventen mit Diplom mit Auszeichnung – zum Wohle der Nationalökonomie, versteht sich.

Es ist schwer zu mutmaßen, ob die Regierung diese Idee umsetzen wird – es gibt bei uns viele Vorschläge aus der Gesellschaft, die es nicht mal bis zu Initiativen von Hinterbänklern im Parlament schaffen. Dessen ungeachtet hat die Staatsduma bereits Ausreisevisa erörtert, Polizisten wurde sogar die Reise ins Ausland zum Urlaub in der Türkei verboten. Aber eines ist sicher: Das Problem des Weggehens von talentierten jungen Menschen aus Russland wird schon nicht mehr nur von liberalen Experten diskutiert. Und das könnte für die jungen Menschen eine Art Signalwirkung haben – vielleicht lohnt es sich ja doch, die Entscheidung zur Auswanderung zu treffen, solange es diese Möglichkeit noch gibt.

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