Apropos Krim: Zurück zum Völkerrecht? Anregungen zur Deeskalation

[Von Kai Ehlers] Die Positionen stehen sich hart gegenüber. Russland verletze mit seinem Vorgehen auf der Krim das Völkerrecht, sagen die einen. Es bleibe alles im Rahmen des Völkerrechts, erwidern die anderen. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Stimmen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Argumenten um Verständnis für den von ihnen im Übrigen nicht bestrittenen Bruch des Völkerrechtes werben. Bei all dem fehlt es nicht an ausgefuchsten juristischen Spitzfindigkeiten.

Aber geht es hier wirklich um Recht der Völker? Wohl eher nicht. Eher wird an dem Dilemma um die Verletzung oder Nicht-Verletzung des Völkerrechtes deutlich, dass die Berufung auf das Völkerrecht, sei es pro oder contra, nur ein Versuch ist, die rechtsfreie Leere notdürftig zu verkleistern oder auch einfach für eigene Zwecke zu nutzen, die im Zuge der heutigen globalen Umbrüche und Machtverschiebungen in den internationalen Beziehungen, entstanden ist – wobei sich die beängstigende Frage stellt, ob die politischen Akteure mit ihrem Hick-Hack um Einhaltung oder Nicht-Einhaltung des Völkerrechts sich nur gegenseitig oder ob sie die Öffentlichkeit täuschen. Oder, was noch beängstigender wäre, ob sie selbst nicht durchschauen, auf welchem dünnen Seil der globale Wettkampf heute ausgetragen wird.

Es stellt sich die Frage: Was ist gemeint, wenn von Völkerrecht gesprochen wird? Muss man nicht genauer von Staatenrecht sprechen, noch genauer, von einem Gewaltmonopol, dass die Staaten über die in ihren Grenzen lebenden Völker oder Minderheiten ausüben? Was Völkerrecht genannt wird, ist in Wirklichkeit eine Völkerpflicht. Sie verlangt Unterordnung unter die Staatsräson und stellt eine Lösung aus dem jeweiligen Staatsverband unter strikte Ausnahmeregelungen. Von „Notrecht“ ist die Rede, das im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen oder einer Illegitimität des Staates zur Selbstverteidigung von den unterdrückten oder verfolgten Bevölkerungsgruppen in Anspruch genommen werden könne, dies allerdings auch erst nach entsprechenden Nachweisen.

Das heutige Völkerrecht ist im Übrigen nicht nur Staatenrecht, es ist zudem in den Grenzen von Nationen definiert. Tatsache ist aber, dass der Nationalstaat als souveränes Rechtssubjekt spätestens seit dem zweiten Weltkrieg durch neu entstandene gesellschaftliche Organisationsformen Konkurrenz bekommen hat. Supranationale Organisationen wie die Europäische Union, wie international agierende Nicht-Regierungs-Organisationen, wie vor allem die global organisierten Monopole und internationalen Kapitalorganisationen, also IWF, Weltbank, WHO und andere haben die Souveränität der Nationalstaaten in zunehmendem Maße eingeschränkt und deren frühere Bedeutung als die entscheidende Bezugsgröße internationaler Beziehungen relativiert. Mit der geplanten transatlantischen Freihandelszone TTIP (Transatlantic trade and Investment Partnership) wollen deren Träger die Rechtshoheit von den Nationalstaaten gänzlich auf die Ebene der global agierenden Monopole verschieben, so dass die Staaten zu ausführenden Organen der Monopolordnung werden. Völkerrecht würde in diesen Plänen durch globales Korporationsrecht ersetzt.

Die politische Realität der zurückliegenden Jahrzehnte hat das ihre dazu beigetragen, dass das Völkerrecht bis zur Unkenntlichkeit erodierte, anders gesagt, sich in ein taktisches Instrument verwandelt hat, das nach Belieben als Hammer gegen den politischen Gegner benutzt oder rücksichtslos übergangen wird. Der Niedergang der Vereinten Nationen ist ein Ausdruck davon. Die Fälle, um nur die letzten Jahre zu streifen, reichen von einseitigen Unabhängigkeitserklärungen wie denen der baltischen Staaten v o r  der Auflösung der Sowjetunion bis zu den Interventionen der USA/NATO/EU in Afghanistan, Irak, Pakistan, Libyen usw. Russland ist mit dem Georgischen Krieg 2008 und der anschließenden Besetzung Ossetiens und Abchasiens wieder in diesen Club der Interventionisten eingestiegen, allerdings nicht als Krieg führende Macht.

Vor diesem Hintergrund sind die Auseinandersetzungen um die Legitimität der „Revolution“ in der Ukraine ebenso wie um die Absicherung des Referendums auf der Krim durch russisches Militär nicht mehr und nicht weniger als taktische Manöver der großen „Player“ auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung. Die Übergangsregierung in Kiew kann keine Legitimität für sich in Anspruch nehmen, sofern sie nicht für die ganze Ukraine sprechen kann und solange sie nicht durch eine allgemeine Wahl legitimiert ist. Dazu kommt ihre Durchsetzung mit offenen Faschisten, deren Irrationalität die Regierung nicht im Griff hat. Insofern kann sie der Bevölkerung der Krim ein Referendum über eine Zugehörigkeit zu  Russland und selbst eine Unabhängigkeitserklärung durch die regionale Regierung nicht versagen. Andererseits kann sie sich auf die Macht des Faktischen berufen, die einfach neue Maßstäbe setzt – solange sie an der Macht ist  und ihre Maßstäbe durchsetzen kann.

Ebenso wenig kann die russische Seite für sich in Anspruch nehmen, im Einklang mit dem Völkerrecht zu handeln, wenn sie Truppen auf die Krim  schickt, die das Referendum nicht nur sichern, sondern befördern, beschleunigen sollen. Auch hier gibt es jedoch die andere Seite, nach der das vorgezogene Referendum Völkerrechtskonforme Fakten schaffen kann, solange die Ukrainische Übergangsregierung nicht legitimiert ist.

Mit tatsächlichen Rechten für die Bevölkerung hat das alles herzlich wenig zu tun. Hier geht es nur um den Wechsel einer Staatenzugehörigkeit, nicht um Selbstbestimmung der Menschen. Eine Selbstbestimmung, die an den Interessen der Bevölkerung, an denen des einzelnen Menschen, nicht an der einen oder der anderen Nationalstaatszugehörigkeit ansetzte, das die Menschen aus einem Gewaltmonopol in ein anderes überführt, hätte ganz anderen Kriterien als denen des jetzigen Völkerrechtes, also Staatenrechtes zu folgen. Sie hätte an der demokratischen Organisation einer selbstverwalteten Autonomie anzusetzen, die sich in Kooperation mit anderen gleichberechtigten Regionen begibt – ganz gleich, ob im ukrainischen oder im russischen Staatsverband. Bis zu einem solchen Verständnis von Völkerrecht ist es jedoch ganz offensichtlich noch sehr weit.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

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