An der Wolga – kleiner Ausflug in die russische Opposition:

[Kai Ehlers] Pjotr Iwanowitsch, pensionierter Offizier der Roten Armee, wohnhaft in Tscheboksary an der Wolga stellte sich mir heute als Menschenrechtsschützer vor. Er drückte mir eine Zeitung in die Hand, deren Titel ich, ihrem verschnörkelten Titel-Layout folgend, zunächst als „MID“ (russ. МИД) lesen musste. Das hätte so viel geheißen wie „Ministerium des Äußeren“, das ist die Behörde, über das Russland seine vielkritisierte Außenpolitik abwickelt. Erst auf den zweiten Blick wurde für mich erkennbar, dass der Leser durch ein schlechtes Layout gefoppt wird. Tatsächlich muss der Schriftzug als MIR (russ. МИР), also Frieden gelesen werden. Diese beiden Bedeutungen sind ja nicht gerade identisch. Sei´s drum, die letzte Ausgabe, die ich in die Hand gedrückt bekam, erschien unter der Überschrift des Leitartikels: „ Wir richten uns selbst zugrunde, das sehe ich mit großem Unbehagen.“ Das Zitat stammt von Adrej Subow, einem bekannten Kremlkritiker, der in dem Interview die Eingliederung der Krim als Selbstisolierung Russlands scharf kritisiert.

Entsprechend schroff verlief auch das Gespräch mit Pjotr und einem weiteren Menschen, der sich unserer Unterhaltung anschloss, nennen wir ihn Alexej. Die Frage, ob der Eindruck stimme, dass sich die russische Bevölkerung unter den gegebenen Bedingungen der vom Westen ausgehenden Sanktionspolitik gegenüber Russland in ihrer großen Mehrheit um Wladimir Putin schare, beantworteten sie mit einem scharfen ‚Nein‘. Es gebe sehr wohl eine Opposition. Und was sie selbst betreffe, so seien sie strikt gegen Putin und setzten sich aktiv dafür ein, ihn zu beseitigen. Politisch, natürlich.

Regimechange nach dem Muster der Ukraine? Ja, durchaus, zwar nicht mit gewaltsamen Mitteln, aber Putin müsse weg.

Auf den „Korruptionsjäger“ Nawalny angesprochen, der seine Listen von ihm ermittelter korrupter Personen beim Einsatz der westlichen Sanktionspolitik an die amerikanische Regierung übermittelte, deren erste Sanktionsliste am Tag darauf genau diese Personen aufzählte, wiesen sie jeden Gedanken daran, dass dies nicht in Ordnung sein könnte, dass man dieses Vorgehen in der russischen Bevölkerung gar als Verrat ansehen könnte, empört von sich. Nawalny könne gar nicht anders handeln. Er habe keine Chance seine Kritik im Lande selbst anzubringen, so wie es gegenwärtig im Lande auch sonst keine Möglichkeit gebe, Kritik vorzubringen. Putin habe Faschismus im Lande eingeführt. In einem Lande, in dem Faschismus herrsche, sei es vollkommen legitim, sich Hilfe aus dem Ausland zu holen. Hauptsache Putin werde von seinem Posten entfernt.

Das erinnert fatal an ein Gespräch, das Katja Glogau und Bettina Senglin am 31.07.2014 im „Stern“ mit der Chefin des Helsinkigruppen, Ludmilla Alexejewa, Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina von Pussy Riot sowie der „Regimekritikerin“ Jewgenija Albaz führten.  Auch in diesem Gespräch dreht sich alles um den autoritären Putin, der weg müsse.

Aber was dann? Leider klar, so Jewgenia Albaz in dem Gespräch: „Nach Putin wird es zunächst noch schlimmer werden. Aber ich sehe keinen Ausweg.“

Diesem Ultra-liberalistischen Radikalismus ist mit keinem Argument mehr beizukommen, nicht mit den Aussagen, die Jewgenia Albaz in eben diesem Gespräch in folgendem bemerkenswert widersprüchlichen Satz selbst vorbringt, nämlich: „In Russland kann man im Prinzip machen, was man will. Aber wer seine Rechte einfordert, wer sich gegen den Staat wendet, der endet im Straflager. Und wer will das schon? Die Menschen haben Angst.  Als ich aufwuchs wurden viele Menschen um mich herum eingesperrt, ständig. Es schien beinahe normal.  Aber heute kann man in Russland sehr viel Geld verdienen. Man kann reisen, sogar auswandern. Wären Sie bereit, das aufzugeben für eine Demo gegen Putin?“

Auch die Tatsache, dass die Kritikerinnen ihre Positionen in dieser Form ins Ausland tragen können, zählt nicht. Selbst die fatalen Ergebnisse, des Regimechanges in der Ukraine führen die Kritikerinnen nicht zur Besinnung, obwohl sie zugleich versichern, dass sie „das Vorgehen der ukrainischen Armee auf keinen Fall gerechtfertigt“ finden.

Diesem Bild ist nur noch mit dem Rating Putins beizukommen, das in diesen Tagen der hemmungslosen westlichen Medienkampagne gegen Russland irgendwo zwischen 85 und 90% pendelt. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung schätzt und verehrt Wladimir Putin zurzeit oder „liebt“ ihn sogar, so die sprachliche Fassung der besonderen Verehrung im Russischen. Warum? Weil er ihnen ihre nach 1991 an den Westen abgetretene Selbstachtung zurückgegeben hat und weil er jetzt für die gemeinsame Abwehr der vom Westen ausgehenden Aggression steht. Das kann man im Westen und in der mit dem Westen liebäugelnden Ultra-liberalen Opposition gut finden oder nicht – es kennzeichnet eine Realität, von der keine Maus mehr einen einzigen Faden abbeißen wird , jedenfalls nicht, solange der Westen auf seinem Konfrontationskurs bleibt.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

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