Aleksej Remizov – Teil II: Leben und Werke

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Er war am Erblinden, das Schreiben fiel ihm schwer, er nannte sich einen »blinden Schriftsteller«, doch die Augen blicken noch erstaunlich ausdrucksvoll, und gearbeitet hat er bis zum letzten Tag. Thematik und Manier waren sich gleich geblieben, seine letzten Werke heißen: »Mäusleins Flötchen«, »Die Pfauenfeder«, »Die Geschichte von den beiden Tieren«. Er starb 1957 im Alter von achtzig Jahren. Kurz vor dem Tode schrieb er ins Tagebuch: »Ein Andrang von Einfällen, doch ich kann sie nicht verwirklichen: die Augen! … Heute schrieb ich den ganzen Tag in Gedanken — und konnte nichts aufschreiben.« Auch seine Faxen hat er bis zum Tode gemacht. Die Bücher der letzten Jahre tragen den Vermerk: »Zensiert im Hohen Rat des Obeswolpal.«
Um solche Beharrlichkeit, Geradlinigkeit und Seelenstärke könnte man Remisow fast beneiden. Doch Neid wäre unangebracht: Remisow hatte das volle Maß menschlichen Leides erfahren. Man warf ihm oft vor, in seinen Büchern häuften sich die Unwahrscheinlichkeiten, aber sein Schicksal war widersinniger als alles, was er sich hätte ausdenken können.
(1)

remizovAleksej Michajlovič Remizov kam am 24. Juni jul. / 6. Juli greg. 1877 in Moskau als fünftes Kind einer Kaufmannsfamilie zur Welt. Ein Leben in Wohlstand schien vorgezeichnet, denn die Familie hatte sich innerhalb von zwei Generationen von Leibeigenen zu angesehenen und wohlhabenden Kaufleuten hochgearbeitet. Remizovs Vater war Galanteriewarenhändler und Mitglied der Zweiten Moskauer Kaufmannsgilde. Seine Mutter, die zwanzig Jahre jünger war als der Vater, entstammte einer reichen und gebildeten Fabrikantenfamilie, die eine große und bedeutende Privatbibliothek besaß, und war dementsprechend eine gebildete und kulturell sehr interessierte Frau. Sie hatte die deutsche Peter-und-Paul-Schule besucht, ihre Liebe galt der Malerei und der Poesie. Ihr verdankte Aleksej seine Liebe zum Zeichnen, zur Kalligrafie und darüber hinaus auch zur Literatur, denn sie machte ihn mit den Werken von Nikolaj Leskov, von Goethe und E.T.A. Hoffmann bekannt. Seine Njanja (Amme und Kinderfrau) hingegen war eine sehr volkstümliche und gottesfürchtige Frau, sie „fütterte“ ihn mit Märchen, Fabeln, volkstümlichen und kirchlichen Legenden und nahm ihn auch in die feierlichen und mystischen russisch-orthodoxen Gottesdienste mit.
Die Geschichte der Familie seiner Mutter erzählt Remizov in seinem ersten Roman Der Teich (1905, Prud) – wie im Übrigen fast alle seine Werke einen starken autobiografischen Bezug haben.
Die Wohlhabenheit von Remizovs früher Kindheit dauerte jedoch nicht lange an, denn die Mutter verließ schon wenige Jahre nach Aleksejs Geburt mit den fünf Kindern ihren Mann, und als Aleksej sechs Jahre alt war, starb der Vater. Die Mutter war nun auf die Almosen ihrer Verwandtschaft angewiesen, insbesondere auf die ihres Bruders, bei dessen Fabrik Aleksej nun ärmlich aufwuchs; seine eigene Situation und das, was er täglich sah, waren sozialer Anschauungsunterricht, der ihn für sein Leben prägte. Auch inspirierte ihn die Brutalität um ihn herum schon im Alter von sieben Jahren zu einer ersten Erzählung, Der Mörder, deren Manuskript er allerdings selbst vernichtete.

Eigentlich wollte Remizov Musiker, Maler oder Schauspieler werden, aber nach der Handelsschule immatrikulierte er sich entgegen seinen künstlerischen Interessen an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Universität Moskau und begann gleichzeitig, Vorlesungen in Philosophie, Geschichte, Jura und Biologie zu hören. Im Mai 1896 wurde er als angeblicher Anführer einer Studentendemonstration, in die er eigentlich nur zufällig geraten war, verhaftet und nach einem halben Jahr nach Penza (700 km südöstlich von Moskau) verbannt. Dort wurde er dann tatsächlich zum Revolutionär. Er organisierte Streiks, reiste illegal nach Moskau, besorgte verbotene Literatur und beteiligte sich an dem Versuch, einen Arbeiterverein zu gründen. Wegen dieser Beteiligung wurde er 1899 erneut verhaftet und 1900 für erneut drei Jahre nach Vologda (600 km östlich von St. Petersburg) verbannt. Insgesamt verbrachte er in den sechs Jahren seiner Verbannung mehrere Jahre in Gefängnissen, teilweise in Einzelhaft. Aber damit nicht genug: Durch einen Irrtum musste er den über 1000 km langen Weg zu seinem neuen Verbannungsort mit Kriminellen zu Fuß und in Ketten gehen.

Zwischen 1896 und 1903 fasste er seine Erlebnisse in der ergreifenden Erzählung Gefangen (v plenu 1910 erschienen) zusammen. Besonders ausdrucksstark ist eine Passage aus dem Kapitel Als Politischer in Haft:
Trostlos schlägt die Gefängnisuhr.
Es wird Nacht …
Die Lampe wirft unbewegliche Schatten auf Fußboden und Wand.
An der Wand eine sterbende Fliege.
Ihre Beinchen sind krampfhaft gestreckt, der kleine Körper schrumpft, und das Schattenfleckchen – ihr letzter Begleiter – schwimmt zitternd.
Da war eine Fliege in meine Zelle gekommen, ist ein, zwei Tage herumgeflogen, und nun stirbt sie.
Und dies erinnert die Fliege in ihrer Fliegentodesstunde: die gelbliche staubige Zelle, wenn draußen im Freien die Sonne hochsteht, das Fenster auch am helllichten Tage wie zugefroren, langweilige träge Asseln in den Ecken, wo streifig der Schimmel grünt, schläfrige Kakerlaken an den Wänden und kleine Schaben, auch faule, voll Blut gesogene Wanzen, kaum sichtbar und böse, blassgelbe Wanzenhaut, dazu dünne flinke Mäuseschwänze, die Zähne einer riesigen rötlichen Ratte, das Dröhnen und Klirren der Sträflingsketten.
Der längliche Schatten ist herabgeglitten und erstarrt.
Die Fliege ist tot.
Und mir kommt es vor, als sei die Zeit stehen geblieben, als seien alle Geräusche erstorben, als gäbe es kein Leben mehr.
(2)

In den Verbannungsorten traf man immer auf andere, gleichgesinnte Verbannte und der weitere Weg war im Prinzip vorgezeichnet. Remizov traf u. a. auf Nikolaj Berdjaev und Anatolij Lunačarskij; und er traf auch auf seine spätere Frau, die Paläografin Serefima Pavlovna Dovgello (*1876, †1943), die ihm zuredete, sich der Schriftstellerei zu widmen. Durch sie geriet er zunächst einmal vollständig in den Bannkreis der Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Doch dort sollte er nicht lange bleiben.

Vom Politaktivisten zum Schriftsteller

1905 erhielt Remizov endlich die Erlaubnis, mit seiner Frau nach St. Petersburg zu ziehen. Das Scheitern der Ersten Russischen Revolution, die er dort miterlebte, ließ ihn verzweifeln und resignieren. Er zog sich endgültig von der Politik zurück.

In Emaliol (1909), einer der Erzählungen über seine Verbannung, beschreibt er im Gespräch der Figur Chlebnikov mit einem ebenfalls verbannten Fürsten solch einen Wechsel von der Politik zum Schriftsteller:

Chlebnikovs Geschichte war einfach. Seit er sich bewusst mit dem Leben auseinandersetzte, mit der Lebensordnung, die ihm auf Schritt und Tritt begegnete, seitdem quälte ihn, dass an dieser Ordnung etwas nicht stimmte: Etwas U n w a h r e s und V e r k e h r t e s haftete dem Leben an. Er versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, und manchmal gelang das auch, doch dann mahnte ihn umso heftiger und quälender eine Stimme, dass man so nicht leben dürfe, dass man nicht leben dürfe in Duldung dessen, was u n w a h r ist und v e r k e h r t. Es galt, das Leben zu verändern, in Ordnung zu bringen. Doch wie das Leben verändern? Da boten sich mit einemmal einfache Mittel, sehr einfache und leicht zugängliche. Und er ließ alles andere sein und warf sich auf die P o l i t i k. So geriet er in einen wahren Lebensstrudel, die Sache hielt ihn gepackt, und er kam nicht zum Grübeln. Das war seine beste Zeit, wenn er zurückdachte. Nun ja – hinterher ist schlecht rechten –, Freunde wurden geschnappt und verrieten ihn. Das war schon alles.
»Nun, und wie denken sie jetzt?«, fragte der Fürst.
»Ich denke, nicht alles ist so einfach, wie es mir damals vorkam.«
»Und wie werden Sie leben?«
»Das ist ja das Problem. Es ist doch alles recht kompliziert.«
(3)

Remizov wurde sehr schnell in den St. Petersburger Kreis der Künstler und Schriftsteller aufgenommen. Fortan war er in Gesellschaft von Aleksander Blok, Andrej Belyj (mit dem er befreundet war), Dmitrij Merežkovskij, Ivan Bunin, Leonid Andreev u. a. zu finden. Es begann die schaffensreichste Phase seines Lebens. Angewidert von der Politik lebte er nur noch in der Welt seiner Gestalten. Es entstanden seine Erzählungen über die Verbannung wie Gefangen, Emaliol u. a., andere Erzählungen wie Das Teufelchen (1909), Märchen zu Themenkreisen wie Russische Frauen oder Diebe , es entstanden (kleine) Romane wie Die Schwestern im Kreuz oder Die Uhr und Theaterstücke wie die Trilogie Russalienspiele. Remizov schrieb in dieser Zeit so viel, dass er von 1910 bis 1912 schon eine Werkausgabe in acht Bänden herausgeben konnte.
(Ein ausführlicheres, aber bei Weitem nicht vollständiges Verzeichnis befindet sich am Ende des Textes.)

Remizov liebte zeit seines Lebens das alte, das archaische Russland, was sich auch in seinen Märchen und Legenden widerspiegelt. So verwundert es nicht, dass er beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch einmal patriotisch wurde und in einer russischen Zeitschrift Für die heilige Rus. Gesänge an die Heimaterde veröffentlichte. Die Februarrevolution 1917 hingegen erschreckte ihn und er schrieb – ebenfalls für eine russischen Zeitschrift – die Worte vom Untergang der russischen Erde.

Ilja Ėrenburg zitiert in seinen Erinnerungen Menschen Jahre Leben Konstantin Fedin, der 1944 in seinem Buch Gorkij unter uns der Jahre der Revolution gedachte und über Remizov schrieb:

Untersetzt, irgendwie dem buckligen Pferdchen ähnelnd, rennt mit leicht gekrümmten Beinen über den Newskij-Prospekt ein stachlig hinter seiner Brille hervorlugender Mensch, in Mäntelchen und Hütchen. Er versteckt den großen verständigen Nacken hinter dem hochgeklappten Kragen, doch das Kinn und die Lippen reckt er hinaus, und seine hakenförmige stattliche Nase bewegt merklich ihre Spitze – sie will sich wohl in das hineinriechen, was aus dem hervorstehenden Munde fliegt.

Und Ėrenburg zitiert auch den Schriftsteller Vladimir Lidin, der 1921 über Remizov schrieb:

Solche Menschlein sind noch nicht ausgestorben: russisch, erdhaft, mäusisch. So lebt er und gedeiht – und Gott gebe ihm noch viele Jahre: dem russländischen Menschlein, das in der Nacht mit der Feder kratzt, in Hunger und Kälte, dem Affenzaren Aleksej Michailowitsch Remisow.

Dieses „Menschlein“ ist seinem Russland trotz der Gräuel der Revolution nach wie vor tief verbunden, die Emigranten bezeichnete es als „Verlorene“. Und doch verließ Remizov – vom Hunger gezeichnet – Russland am 7. August 1921 – dem Tag, an dem Aleksandr Blok starb –, um über Reval und Prag nach Berlin und dann nach Paris zu emigrieren. Seine Heimat sollte er nie wiedersehen.

Emigrant in Berlin

In Berlin war Remizov Teil einer illustren Gesellschaft, die Stadt war (wie in Teil I dieses Essays beschrieben) zur „zweiten Hauptstadt Russlands“ geworden:

Und am Morgen – Frühling! – drangen das Sonntagsläuten von Altmoabit und aus dem Tiergarten die Wolke der austreibenden Bäume und mit dem grünen Frühlingswehen das tiefe Geläute der Gedächtniskirche zum Fenster herein, und man wusste nicht, ob man in Moskau war oder in Berlin.

Den glücklichen Worten nach könnte man meinen, in Berlin wäre Remizov glücklich gewesen. Mitnichten! Dieser Satz in seinem Erinnerungsbüchlein Gang auf Simsen (1929), in dem er über die ersten Jahre der Emigration von 1921 bis 1928 schreibt, ist der einzig freundliche über Berlin. Er war unglücklich in Berlin. Er erlebte die Stadt als kalt und abweisend und überbürokratisiert. Von Haus aus ein Eigenbrötler und wenig kontaktfreudig machte ihm die im Vergleich mit der russischen Mentalität kühle Art der Preußen schwer zu schaffen. Mit den sogenannten weißen Emigranten – also jenen, die schon vor, während und kurz nach der Revolution geflüchtet waren – verband ihn nichts. Es blieben der Kreis seiner Schriftstellerkollegen und die Berliner Kunstszene.

Stunden-, ja tagelange Gänge von einer Behörde zur nächsten, um die jeweils nur drei Monate gültige Aufenthaltserlaubnis zu verlängern (bei gleichzeitigem Bangen, ob sie überhaupt verlängert werden würde), zehrten an seinen Nerven. Einmal sollte er sogar ausgewiesen werden und konnte nur dank der Fürsprache von Thomas Mann und dem kunstsinnigen sowjetischen Botschafter, der dann 1936 in den Stalinschen Schauprozessen erschossen wurde, bleiben.

Trotz drückender Alltagssorgen war das Jahr 1922 eines seiner fruchtbarsten: Er publizierte 17 Bücher – Neuauflagen nicht mitgerechnet. Ilja Ėrenburg, der große Chronist dieser Jahre, schreibt in seinen Erinnerungen:

Jetzt will ich Remisows gedenken, den ich im Jahr 1922 in Berlin kennenlernte. In einer kleinbürgerlichen deutschen Wohnung, in einem Zimmer voller fremder Möbel, saß ein kleiner gebeugter Mann mit einer großen neugierigen Nase und lebendigen, schelmischen Augen. Seine Frau Serefima Iwanowna bewirtete die Gäste freundlich mit Tee. Auf dem Schreibtisch sah man Manuskripte, die ein Meister der Schönschrift geschrieben, nein: gezeichnet haben musste. An Bindfäden schwankten diverse Papierteufel: hausbackene und böse, listige und lammfromme. Remisow lachte still vor sich hin. An jenem Tag hatte er ein neues Spielzeug bekommen: Boris Pilnjak, der fantastische Geschichten über das Leben in Kolomna [eine Stadt110 km südöstlich von Moskau, hmw] zum Besten gab.(4)

Im Jahr 1923 verschlechterte sich durch die Verbesserung der ökonomischen Situation in Deutschland die Lage für die russischen Emigranten im Besitz von Devisen. Gleichzeitig wurde Deutschland immer national- bis nationalsozialistischer. Die große russische Emigrantenwelle zog weiter nach Paris – und die ersten Emigranten begannen, ihren Frieden mit der neuen Sowjetunion zu machen.
Auch Remizov zog mit seiner Frau weiter nach Paris.

Die Jahre in Paris

Remizov arbeitete weiter wie besessen, aber die Zeit war über ihn hinweggeschritten: Er fand keine Verleger mehr und gab seine Bücher mit mühsam verdientem oder erbetteltem Geld im Selbstverlag heraus. Er musste Hunderte seiner kostbaren handschriftlichen Alben mit Zeichnungen zu seinen eigenen Texten und zu Werken berühmter Schriftstellerkollegen (Turgenev, Dostoevskij, Čechov u. a.) verkaufen, und seine Frau unterrichtete an einer Schule Paläografie, damit sie wenigstens ihr Leben fristen konnten.
Von allen politischen Lagern hielt er sich fern – was ihm Ärger und Verdächtigungen von allen Seiten einbrachte. Die Liebe zu „seinem“ Russland war so groß, dass er nach dem Tod seiner Frau sogar die sowjetische Staatsbürgerschaft annahm, was ihn in Emigrantenkreisen endgültig desavouierte. Ilja Ėrenburg – längst ein arrivierter sowjetischer Schriftsteller – besuchte ihn 1946 in Paris:

Ich hatte ihn zwanzig Jahre nicht gesehen. Muss man diese Jahre rekapitulieren? Auch Remisow erlebte viel Schweres. Während der deutschen Besatzung litt er Hunger, Kälte und Not. Im Jahr 1943 starb Serefima Iwanowna. Ich sah einen tief gebeugten Greis. Er lebte allein und vergessen, lebte in ewiger Not. Doch immer noch leuchtete das gleiche schelmische Flämmchen in seinen Augen und immer noch kreisten die gleichen Teufel durchs Zimmer und immer noch schrieb er die gleiche Sprache; notierte Träume, verfasste Briefe an seine tote Frau, arbeitete an Büchern, die niemand drucken wollte.(5)

Am 26. November 1957 starb Remizov in Paris, erblindet und völlig vereinsamt, denn nachdem Frankreich immer prosowjetischer geworden war, war auch die russische Emigrantenwelle weitergerollt: nach Amerika oder zurück in die „Heimat“ (vgl. hierzu den Essay zu Nina Berberova).

Remizov war sicher eine der genialsten und zugleich tragischsten Gestalten der an tragischen Gestalten so reichen Geschichte Russlands. Die Politik hatte ihn überrollt und die Literatur war über ihn hinweggeschritten. Doch ihn focht das nicht an: Er lebte, was er schrieb, er war der russische Symbolist.

Remizovs literarisches Universum

Hier ist nicht der Ort einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Remizovs Schaffen, in diesem Zusammenhang sei auf Christa Eberts Symbolismus in Rußland – Zur Romanprosa Sologubs, Remisows, Belys (1988) verwiesen. Ebenso wenig können seine Werke im Detail besprochen werden – er hat 83 Bücher mit Hunderten von Einzelerzählungen geschrieben. Im Literaturkasten am Ende dieses Texts sind einige Ausgaben seiner Werke aufgeführt, die exemplarisch für sein Schaffen stehen. Nur eine Auswahl seiner Werke ist überhaupt in deutscher Sprache erschienen, eine Übersicht über diese Werke gibt das Slavistik Portal RussGuss, eine Bibliografie in russischer Sprache finden Sie in der russischen Wikipedia. Hier kann es nur darum gehen, einige wesentliche Merkmale seines Schaffens aufzuzeigen.

Remizov sagte von sich selbst:
Mein Schaffen gründet auf dem Lied und auf dem Gebet. Erzählen kann ich nur Novellen (…), das Epos liegt mir nicht. Ich bin kein Romanschriftsteller (…). Ich habe keine Begabung für Folgerichtigkeit, ich zerstückle alles.

An anderer Stelle heißt es:
Alles auf der Welt wird durch das Wort, durch die Kombination von Wörtern ausgedrückt. Die Welt ist ein Wörterbuch. Und wie sehr ich mich an den Wörtern freue. Die Wörter rühren mich – ich spüre ihren Blick, ihren Händedruck. Mich kann man mit einem Wort zerkratzen und verführen.

Und an noch mal anderer Stelle:
Ich liebe alles, was nicht „real“ ist, Beschreibungen des „realen“ Lebens sind für mich wie Kartoffelschalen oder Schreibübungen.(6)

Der Schriftseller Gleb Alekseev schließlich schreibt 1923 über Remizov:
Das Wort ist für Remisow Selbstzweck. Es ist lebendig, bewegt sich. Kleine Männchen bewegen sich über den Schreibtisch, er kommandiert sie, formiert Zahlenreihen und Armeen von Büchern.(7)

Remizovs Werk besteht aus Märchen, Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen, niedergeschriebenen Träumen, Legenden, kleinen Romanen, Mysterienspielen und Skizzen. Seine ersten kleinen Romane, Märchen und Novellen (z. B. Die Uhr, Der Teich, Schwestern im Kreuz, Das Teufelchen, Prinzessin Mymra) sind durchaus noch von der realistischen Erzählmanier (Dostoevskij, Gogol, u. a.) beeinflusst, vor allem die, die von seiner Verbannung handeln, aber auch einige Märchen.
Mit der Zeit aber überspringt Remizov in seiner Literatur zunehmend die Grenzen der Genres, wechselt in ein und demselben Werk nahtlos von einem ins andere. Man erwartet ein zielloses Durcheinander, aber die Übergänge sind harmonisch. Er flicht z. B. Träume in seine Erzählungen ein – und das nicht zielgerichtet, so wie Remizov anders als die Generationen russischer Schriftsteller vor ihm überhaupt kein (vordergründiges) Ziel verfolgt. Er will nichts erreichen mit seinem Schreiben. Er will lediglich zeigen, wie es ihm mit all dem, das ihn umgibt, geht – dass er aber genau damit zumindest bei nachdenkenden Menschen etwas erreicht, steht auf einem anderen Blatt.
Es läuft darauf hinaus, dass Remizov ein Gesamtkunstwerk schafft, vergleichbar einer musikalischen Komposition. Er bringt Farbe (Ausdruckskraft) in sein Schreiben, indem er mit Worten und Wortzusammensetzungen spielt, neue Wortbedeutungen findet und nicht zuletzt „dem Volke auf’s Maul schaut“ – also das russische „skaz“ verwendet, das von Gogol „entdeckt“ und von Leskov perfektioniert wurde.

Ein gutes Beispiel für ein solches Gesamtkunstwerk sind seine Erinnerungen Gang auf Simsen (1928). Die Erzählung läuft nicht auf einen Höhepunkt zu; man gleitet in Remizovs Gedankenwelt dahin wie in einem Musikstück.
Es ist schwierig, diese Losgelöstheit heute, in einer Zeit, in der alles (auch in der Literatur) auf Zweck und Ziel ausgerichtet ist, zu beschreiben. Man muss sich darauf einlassen – dann wird man von Remizovs Werken auch ergriffen.

(1) [zitiert nach Ilja Ehrenburg: Menschen Jahre Leben, 1962]
(2) [zitiert nach Alkesej Remisow: Das Teufelchen, 1991 ]
(3) [zitiert nach Aleksej Remisow: Das Teufelchen, 1991]
(4) [zitiert nach Ilja Ehrenburg: Menschen Jahre Leben, 1962]
(5) [zitiert nach Ilja Ehrenburg: Menschen Jahre Leben, 1962]
(6) [zitiert nach Alexej Remisow: Der goldene Kaftan und andere russische Märchen, 1981]
(7) [zitiert nach Christa Ebert: Symbolismus in Rußland – Zur Romanprosa Sologubs, Remisows, Belys, 1988]

Hier nun einige Werke von Aleksej Remizov, die exemplarisch für sein Schaffen stehen:

Alexej Remisow: Das Teufelchen, Erzählungen und ein Roman, übersetzt von Waltraud Ahrndt und Eckhard Thiele, Nachwort Christa Ebert, Aufbau Verlag 1991
Inhalt
Gefangen (Deutsch von Waltraud Ahrndt) / Die silbernen Löffel (Deutsch von Eckhard Thiele) / Heiligabend (Deutsch von Waltraud Ahrndt) / Das Teufelchen (Deutsch von Waltraud Ahrndt) / Emaliol (Deutsch von Waltraud Ahrndt) / Der unverwüstliche Schelm (Deutsch von Waltraud Ahrndt) / Schwestern im Kreuz (Deutsch von Eckhard Thiele)

Alexej Remisow: Der goldene Kaftan und andere russische Märchen, Übersetzung aus dem Russischen und Nachwort von Ilma Rakusa Mit 8 Farbtafeln, Manesse Verlag 1981
Inhalt
Russische Frauen
Die Erkorene / Die Ersehnte / Die Verurteilte / Die Rührselige / Die Verlorene / Die Schüchterne / Die Verleumdete / Die Verzweifelte / Die Widerspenstige / Die Schlimme / Die Brüderliche / Die Freundinnen / Die schöne Fichte / Die Gevatterin / Die Wahrsagerin / Die Herzliche / Die Raterin / Die Scharfsinnige
König Salomo und König Goroskat
König Salomo / König Goroskat
Diebe
Diebe / Räuber / Gauner / Hundeschweif / Der Dieb Barma / Der Dieb Mamyka
Herren
Der Waldschrat / Der Wassermann / Der Teufel / Der schreckliche Knochenmann / Der Vampir / Der Tote
Weltliche Rätsel
Der Streit / Ein Fetzen Birkenrinde / Um des Schafes willen / Das Kirchengeläut / Der goldene Kaftan / Die fremde Schuld / Der ersehnte Gast / Das Osterfeuer / Die Fischköpfe / Die Eselsohren / Das Mausjunge / Der Löwe / Die unglückliche Not
Scherzhafte Geschichten
Der Skomoroch / Der Heldenhund / Der Flieger / Der Mann als Bär / Die wunderbaren Schuhe / Die gierigen Finger / Der Himmel ist runtergefallen / Der Bärenführer

Alexej Remisow: Die Geräusche der Stadt, übersetzt und mir einem Nachwort von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag 1996
Inhalt
Hungerlied
Zeitgenössische Legenden
Funken / Die Hand des Täufers / Der kleine Reliquienschrein / Ein reines Herz / Sterne / Der vierte Kreis / Weihnacht / Nachodka / Die Straßenbande / Das Licht des Wortes / Zäune
Siebentagebuch
Die beiden Starzen / Die Schlange / Panna Maria / Der gute Lehrer / Der ehrwürdige Fuchs / Verschieden / Die Kreuzchen / Ein nicht tödliches Leben / Malwina / Das Fräulein von Kresty
Beseelte Gegenstände
Die Türklinke / Die Trambahn
Märchen
Salzlüstern / Ein Schluck Kwass / Der Zimmermann Jefim / Der Fund

Alexej Remisow: Gang auf Simsen, aus den Russischen von Annelore Nitschke, Suhrkamp Verlag 1991
Inhalt
Simse
Esprit / La matière / Unser Schicksal
Biku

Weiterführende Literatur:
Düwel, Wolf / Grasshoff, Helmut [Hrsg]: Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917 (in zwei Bänden), Aufbau-Verlag 1986
Ebert, Christa: Symbolismus in Rußland – Zur Romanprosa Sologubs, Remisows, Belys, Akademie-Verlag Berlin 1988
Ehrenburg, Ilja: Menschen Jahre Leben, Band 1 und 2, Kindler Verlag 1962
Eliasberg, Alexander: Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, Oskar Beck München 1922
Lauer, Reinhard: Geschichte der russischen Literatur – von 1700 bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag 2000
Luther, Arthur: Geschichte der Russischen Literatur, Bibliographisches Institut Leipzig 1924
Mierau, Fritz [Hrsg.]: Adam – Exzentrische Geschichten aus Rußland 1906 bis 1937, Reclam Verlag 1993, u. a. Alexej Remisow: Affen
Mierau, Fritz: Russen in Berlin 1918 – 1933, Eine kulturelle Begegnung, Quadriga Verlag 1988
Urban, Thomas: Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre, Nicolaische Verlagsbuchhandlung Berlin 2003

[russland.RU]

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