9.Mai – Ein Tag „mit den Tränen in den Augen“

Am 9. Mai feiert man in Russland den 70. Jahrestag des Sieges über das Hitler Deutschland im Zweiten Weltkrieg

Während sich die westlichen Journalisten über die „Weltkriegsparade“ auslassen und sich darüber Gedanken machen, wer denn von den Staatschefs überhaupt am 09. Mai zu den Feierlichkeiten nach Moskau kommen wird, bereitet sich Russland auf ein Datum vor, das ein Meilenstein in der russischen Geschichte und von seiner Bedeutung im Volksgedächtnis mit keinem anderem Fest vergleichbar ist. In diesem Jahr gedenken die Russen den 70. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Und allein die Benennung des Zweiten Weltkrieges als „Großer Vaterländischer Krieg“ sagt viel über dessen Bedeutung aus. Denn nur so und nicht anders heißt der Zweite Weltkrieg in Russland. Der Preis für diesen Krieg waren 27 Millionen Menschenleben. Es gab keine einzige Familie in der ehemaligen Sowjetunion, die vom Krieg verschont blieb. Fünf Jahre enorme Anstrengungen, Verluste, Hunger, Nöte, Bombenangriffe, Zerstörung…. Deswegen ist es in erster Linie ein Tag „mit den Tränen in den Augen“, wie es in einem alten sowjetischen Lied heißt, das jedes Jahr an diesem Tag überall zu hören ist. Der 9. Mai spielt eine ungeheuer große Rolle in der russischen Kultur und im Volksgedächtnis. Nach all den Turbulenzen der Umbruchjahre, nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Durchbruch des Kapitalismus, ist der Tag des Sieges etwas, was die Nation einigt.

Der Große Sieg über den Faschismus, wie man dieses Datum in Russland nennt, ist nicht nur das Schlüsselereignis der Weltgeschichte, sondern auch ein Eckpfeiler im Selbstverständnis und Selbstidentifikation der Nation heute. Laut einer aktuellen Befragung des Staatlichen Russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM sind 90% der Russen der Meinung, dass der 9. Mai ein wahres Volksfest ist. Nur 9% haben ausgesagt, dieses Datum sei nur für die Kriegsveteranen wichtig.

Diese Veteranen werden mit ihren Orden auf der Brust, wie jedes Jahr am 09. Mai über den Roten Platz gehen. Und genau dieser Marsch ist der ergreifendste Moment, der Höhepunkt des Tages und nicht die Militärparade, wie man es im Westen annimmt. Nur 12% der Russen sehen in der Parade die Möglichkeit, die militärische Stärke Russlands zu demonstrieren (2010 waren das 18%).
Dabei wollen 91% der Befragten auf gar keinen Fall auf die Tradition der Siegesparaden am 09. Mai verzichten. Fast jeder zweite meint, dass die Paraden helfen, die Geschichte nicht zu vergessen und die Erinnerungen an die Heldentaten des Volkes zu bewahren. „In den letzten fünf Jahren ist das Interesse unserer Bürger an die Siegesparade am Roten Platz wesentlich gewachsen“, sagte der Leiter vom WZIOM Walerij Fjodorow in einem Interview für die russische Nachrichtenagentur „Nowosti“.

Für die meisten bleibt dieses Fest in erster Linie ein Tag der Erinnerung und der Danksagung an die Menschen, die die Heimat vom Faschismus befreit haben. Es ist ein rührendes, ergreifendes und beinahe intimes Fest, obwohl es immer auch pompös gefeiert wird. Die meisten russischen Familien kommen an diesem Tag zusammen, um ihre noch lebenden oder auch verstorbenenn Veteranen zu ehren. Natürlich werden alle nach der alten russischen Tradition am Tisch sitzen. 91% der russischen Bevölkerung will die Übertragung von der Siegesparade am Roten Platz im Fernsehen verfolgen. Viele werden das Sankt-Georgs-Band tragen, das als kollektiver Orden der Russischen Garde für den Kampfeinsatz gegen das Deutsche Reich verliehen wurde und seit dem 60. Jahrestag des Sieges als Zeichen des Gedenkens geführt wird. Und viele werden aufstehen, wenn alle Fernseh-und Radiosender mit den Worten „Keiner ist vergessen, nichts ist vergessen” die Schweigeminute ankündigen werden: 60 Sekunden lang wird man nur den Pulsschlag hören, die Flamme am Grabmal des Unbekannten Soldaten sehen.

Man diskutiert im Westen über den Hitler-Stalin-Pakt oder darüber, ob Stalin selbst nicht vorhatte, Deutschland zu überfallen. Doch all diese Diskussionen haben nichts damit zu tun, was ein russischer Mensch empfindet, wenn er z.B. im Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Moskau in lebensnahen Installationen das Leiden der Leningrader Bevölkerung während der 900tägigen Blockade erleben und ein Stück Brot von 125 Gramm sehen kann – eine Tagesration für eine Person für fast drei Jahre. Zu viel Pathos? Vielleicht. Doch, wie es einem Gedicht über den Krieg heißt: „Wer immer satt war, wird nie verstehen, wie das geträumte Brot schmeckt“.

Und ob Obama oder Cameron dabei sein werden oder nicht, für 52% der Russen spielt das keine Rolle. „Der 9. Mai ist für jeden russischen Bürger heilig“, so erklärt die Bedeutung dieses Festes eine russische Internetseite. Heute schreiben die Schulkinder in ihren traditionellen Aufsätzen über ihre Urgroßväter im Großen Vaterländischen Krieg. Noch von wenigen Jahren schrieben sie über ihre Großväter. Es gibt sie immer weniger, die Kriegsveteranen. Doch dadurch wird die Bedeutung dieses Festes nicht geringer. „Je weiter die Ereignisse von 1945 zurückliegen, desto stärker wird der Impuls, diesen Tag zu gedenken, was den Gesetzen der Physik eigentlich widerspricht“, sagte Walerij Fjodorow. „ Aber die Gesetze der Geschichte sind anders“. Vielleicht hat es damit zu tun, dass es im Moment regelrechte Kämpfe um die Geschichtsschreibung geführt werden. „Letzte Zeit haben diese Diskussion eine ganz neue Qualität bekommen. Z. B. hören wir, dass Ausschwitzt von der Ukrainischen Armee befreit worden ist“.

P.S. Das Ende des Krieges wird in Russland am 9. und nicht am 8. Mai immer gefeiert, weil der Waffenstillstand nach Moskauer Ortszeit erst am 9. Mai in Kraft trat.

Daria Boll-Palievskaya/russland.RU

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