Mein Moskau [6] – Ankunft

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das sechste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Der nächste Morgen. Ich habe wunderbar geschlafen, fühle mich zum Bäume ausreißen.

Irgendwann in der Nacht (in Smirnanka) hat unser Zug die Fahrtrichtung gewechselt, unser Wagen ist jetzt am Ende des Zuges. Ganz offensichtlich ist das der Grund, weshalb das Fahren wesentlich angenehmer geworden ist, nur noch ein leichtes Schaukeln, kein heftiges und lautes Schlagen, eben ein angenehmes Fahren.

Toiletten und Waschraum sind sauber; ich kann mir sogar die Haare waschen und werde damit endlich denn widerlichen Suppengestank aus meinen Bart los.

Ein Blick aus dem Fenster: es schneit heftig und wir sind jetzt wirklich im Land der Birken! Endlose Birkenwälder im Schnee, für mich ein – es klingt nach Pathos – ergreifender Anblick. Ich liebe Birken! Ihre zarte, schlanke und feingliedrige Gestalt, ihre weiß-grau gescheckte Rinde, das zarte Grün ihrer Blätter; aber auch den Duft des Birkenholzes, das im Kaminfeuer knackend und prasselnd verbrennt.

Wir fahren durch endlose Wälder, mal Birken, mal Kiefern, dazwischen große Lichtungen, in denen kleine Dörfer, manchmal auch nur einzelne Holzhäuser stehen

Das Bild fast aller größeren Städte, durch die wir fahren, wird geprägt von nicht gerade schönen Hochhäusern – Plattenbauweise, wie ich sie schon in Polen und der früheren DDR gesehen habe – die Häuser sehen schon nach der Fertigstellung so mitgenommen aus wie nach fünfzig Jahren; aber am Rand der Städte stehen dazwischen oft, wie in den Dörfern, die bunten Holzhäuser mit ihren kleinen Gärten und Staketenzäunen.

Auf den Schienen herrscht reger Verkehr: viele Menschen benutzen diese wohl kürzeste Verbindung und laufen mit Einkaufstaschen schwer bepackt über die Schienenschwellen.

Wir nähern uns Moskau; es schneit immer noch.

Straßen, an denen wir vorbeifahren, sind schneebedeckt und dennoch fließt der Verkehr offensichtlich zügig. Die Straßen werden wohl selten vom Schnee geräumt oder gar gesalzen; es geht auch so, alles eine Frage der Gewöhnung.

Seit gut einer halben Stunde fahren wir jetzt schon durch die Stadt mit ihren Vororten; wir fahren zwar langsam, aber trotzdem, dieses Moskau muß eine riesige Stadt sein.

Ein Blick in meine Unterlagen: Moskau, heute geschätzt 12 Millionen Einwohner (zwei Drittel der gesamten früheren DDR), Durchmesser über fünfzig km, Fläche über eintausend km2, eine der größten Städte der Welt. Das kann heiter werden! Und da soll ich mich zurechtfinden! Helf Gott!

16 Uhr 30 Moskau Zeit, schnell noch meine Uhr um eine Stunde vorstellen, wir fahren in den Bahnhof ein.

 

Ankunft

Moskau, Kievskij vokzal, Kiewer Bahnhof.

Hier enden alle Züge, die über Kiew nach Moskau kommen:  das sind Züge aus Istanbul, Sofia, Thessaloniki, Belgrad, Bukarest, Budapest, aus Prag, aus Odessa am Schwarzen Meer, aus der gesamten Ukraine.

Moskau ist der politische Mittelpunkt und auch der Verkehrsknotenpunkt Russlands und der ehemaligen Sowjetunion; alle Fernverbindungen auf der Straße, der Schiene und in der Luft führen sternförmig nach Moskau: Die Fernstraßen – die meisten von ihnen waren schon im Mittelalter große Handelsstraßen – münden auf den 110 km langen Autobahnring um Moskau; für den Luftverkehr stehen vier Flughäfen zur Verfügung, wovon der größte, Scheremetjewo 2, für den internationalen Flugverkehr bestimmt ist. Moskau besitzt nicht nur einen zentralen Hauptbahnhof, an dem sich alle Fernzüge treffen, sondern neun Hauptbahnhöfe, die nach der Stadt oder der Region benannt sind, aus der die in ihnen endenden Fernzüge kommen. Sie liegen alle im Zentrum der Stadt und sind durch die Metro miteinander verbunden.

16 Uhr 30 MZ (Moskau Zeit) Kiewer Bahnhof, eine 52 stündige Bahnreise (zwei Tage und vier Stunden) geht zu Ende.

Ich habe in dieser langen Zeit für „meinen“ Zug fast kameradschaftliche Gefühle entwickelt, so als ob dieser ewig lange Lindwurm mit seinem feuerroten Kopf tatsächlich ein eigenständiges Wesen wäre; und wenn es so wäre, was mag er empfinden, wenn er jetzt laut pfeifend langsam in seine Heimathöhle einrollt?

Ist es Freude und Stolz, wieder einmal die Naturgewalten besiegt zu haben? Oder ist er einfach nur müde?

Ich glaube er ist stolz, und das darf er auch sein!

Anders geht es mir!

Mein vorherrschendes Gefühl ist, wenn ich ehrlich sein soll, mehr die Angst. Es klingt zwar pathetisch, aber es stimmt: meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt; wie wird es weitergehen und wird es überhaupt weitergehen, oder werde ich hier kläglich stranden und meine Reise wird ein vorzeitiges Ende nehmen, und wenn schon ein Ende, wird es ein glimpfliches sein? Von Helena und Bernd habe ich für alle Fälle noch ihre Moskauer Telefonnummer bekommen.

Draußen ist es dunkel. Diese riesige „Stahl-Glas-Höhle“ riecht, tönt und sieht auch noch aus wie ein Bahnhof; die westliche moderne Sterilität hat hier wahrlich noch nicht Einzug gehalten!

Wenn ich schon im Prager Hauptbahnhof empfand, in einer fremden Welt zu sein, dies hier ist eine andere Welt!

Auf dem Bahnsteig ein Geschiebe und Gedränge fremd aussehender Menschen zwischen monströsen Gepäckstücken; heftige Begrüßungen mit lauter Freude, vielen Umarmungen und noch mehr Tränen.

Durch dieses Gedränge muss ich mich vom Ende des Zuges bis an den Anfang durcharbeiten (15 Waggons!), voll bepackt bis zum Gehtnichtmehr; ich werde zwar andauernd von wahrscheinlichen Gepäckträgern angesprochen, mir fehlen aber leider im wahrsten Sinn des Wortes die Worte, um mir helfen zu lassen.

Hier soll ich nun Antonina Alexandrowna, Soias Mutter, treffen; ich habe für sie eine Tasche dabei, in der entweder Ziegelsteine oder Goldbarren zu sein scheinen, so schwer ist die Tasche. Ich kann nur hoffen, dass sie mich nach der Beschreibung erkennt: schwarzer Hut, Vollbart und im Mund eine Pfeife.

Nach dem fotokopierten Foto, das ich von ihr habe, werde ich sie in diesem Getümmel wohl kaum erkennen.

Meine Sorge, mit meinem verabredeten Aussehen nicht genügend aufzufallen, ist unbegründet: mein schwarzer Hut scheint einmalig zu sein und entgegen unserer westlichen Vorstellung von den russischen Männern mit großen Barten à la Rebroff sehe ich nur bartlose Männer; meine Pfeife, russisch „drubka“ oder ukrainisch „lullka“, erregt offensichtlich sogar Aufsehen.

Bei meinem Kampf auf dem Bahnsteig zur Halle taucht plötzlich in der Menge ein Schild mit dem Namen „Vitek“ auf – es ist zwar falsch geschrieben, soll aber wohl mein Name sein, darunter eine Dame, die ich auch nach dem schlechten Foto, das ich habe, als Soias Mutter erkennen kann.

Brief und Tasche sind schnell ausgetauscht.

Meine russische Mitreisende Helena dolmetscht mir leider sofort die erste Hiobsbotschaft, dass nämlich mein russischer Opernsänger Nikolai in Moskau umgezogen ist, sich jetzt aber irgendwo im Ural befindet (2500 km).

Schade, schade, schade!

Aus ist der Traum von der Silvesternacht in Moskau auf dem roten Platz; und es wäre sogar einem Märchentraum nahe gekommen, denn es liegt tiefer, tiefer Schnee!

Es bleibt jetzt also nur noch die „Letzte-Rettung-Telefonnummer“ für diese Nacht und dann erst einmal ab nach Riga. Antonina Alexandrowna wird mir helfen.

Von Riga aus werde ich dann meine Reisen nach Moskau und St. Petersburg planen.

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