25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki

Im LAIKA-Verlag erscheint dieser Tage der erste von zwei Bänden „25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki“ von Kai Ehlers. Es ist der Versuch, Russland für Außenstehende verständlich zu machen und will somit auch die aktuellen Konflikte in ein anderes Licht rücken. Umfasst ist die Zeit Gorbatschows und die Anfänge Jelzins. Warum die Welt dieses Buch gerade jetzt dringend braucht fasst Sven Kindervater für uns zusammen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion – über ein halbes Jahrhundert hielt man dies für ein Ding der absoluten Unmöglichkeit. Und dennoch ist es geschehen. Eine Weltmacht besiegt und zwar nur durch sich selbst. Keine Massendemonstrationen, keine revolutionäre Bewegung, keine neue politische Führung. So allmächtig, angsteinflößend und unantastbar das System wirkte, so atemberaubend schnell zerlegte es sich in seine Einzelteile. Am 31.12.1991 schrieb die UdSSR ihr letztes Kapitel in den Geschichtsbüchern und verschwand gleichzeitig aus den Atlanten.

Das Buch will verstanden werden

Natürlich wirft das die Frage auf, wie das alles passieren konnte. Kai Ehlers stellt sich diese Frage seit über 30 Jahren. Er ist Journalist, alter 68er, schrieb lange Zeit für eine Zeitung mit dem Titel „arbeiterkampf“. Dieser Tage veröffentlicht er einen ersten von zwei Bänden mit dem schlichten Titel „25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki“. Nun mag man sich fragen, was uns dieser Abdruck von Gespräche bringen mag. Wer sind die beiden und vor allem: Braucht diese Welt dieses Buch? Ja, sie braucht es.

Das westliche Bild von Russland war schon immer vor allem durch eins geprägt: Unverständnis. Doch da sich der Mensch immer alles erklären muss, verklärte er. Ehlers und Kagarlitzki treten nun an, dem wirkmächtig entgegenzutreten. Und sie schaffen es auf eine überaus angenehme und überzeugende Art. Dieses Buch ist kein Abdruck eines akademischen Diskurses – die beiden Männer wollen nicht beeindrucken, sie wollen bewegen, hinterfragen, aufklären. Und vor allem wollen sie verstanden werden. Mit jeder Zeile weicht ein Fragezeichen und wird ersetzt durch ein „Ja, so ergibt das Sinn“. Das Unverständnis lichtet sich, Zusammenhänge werden klar, Motivationen deutlich. Ehlers fragt, Kagarlitzki antwortet. Er äußert seine Meinung und stellt dabei mehr klar, als alle Auslässe über Putins Kindheit, Freizeitgestaltung und Essgewohnheiten.

Das politische Engagement in Person

Doch wer ist dieser Boris Kagarlitzki? Geboren 1958 in Moskau landet er schon mit Anfang 20 wegen ein paar Flugblättern hinter sowjetischen Gittern. Ein linker Kritiker der Staatsmacht, welcher selbige wie so viele vor ihm schnell und schonungslos zu spüren bekommt. Doch im Land stehen die Zeichen auf Umbruch. Ausgerechnet der neue oberste Kommunist Gorbatschow leitet Veränderungen ein, Perestroika und Glasnost nennt er sie, Umstrukturierung und Öffnung. Kagarlitzki kommt frei und zählt sich schnell zum selbsternannten linken Flügel der Perestroika. In den folgenden Jahren wird er einer der führenden linken Köpfe Russlands und nicht zuletzt auch unzählige Male von westlichen Journalisten interviewt. Er vermag zu erklären, was viele sich von außen nicht erklären können.

Das Buch spiegelt Gespräche mit ihm seit dieser Zeit wider. Dabei fällt einem schnell Kagarlitzkis Fähigkeit auf, komplexe Sachverhalte so verständlich darzulegen, wie es hierzulande vielleicht nur ein Gregor Gysi schafft. Er ist das politische Engagement in Person, organisiert unermüdlich Demonstrationen, Kongresse, neue Gruppen, Parteien und Gewerkschaften. In seiner Analyse ist er Marxist – klassenbewusst will er die Welt nicht verändern, weil er sie gerne netter hätte, sondern weil sie für möglichst viele gut funktionieren soll. Das ist mitunter auch seine große Schwäche, wenn er wie viele vor ihm viel zu oft das Zusammenbrechen des Kapitalismus voraussagt oder in jeder Bewegung nun den Zeitpunkt für den Umsturz erkennen will. Aber ganz im Sinne Brechts schwankt er nicht, sondern ist selbstreflektiert und bleibt weiter auf der Suche danach, was wirklich getan werden muss. Er ist nie schwarz-weiß und somit angenehm differenziert.

Gespräche, die aufräumen

Ehlers Rolle ist die des Lotsen durch die Wirren dieser Zeit. Er ist mit Boris auf Du und somit auch der Leser. Eine vertraute Nähe entsteht, man sitzt am Tisch mit zwei Freunden. Durch sehr grobe Umrisse der politischen Ereignisse am Anfang eines neuen Kapitels führt er die Rahmenbedingungen ein, unter denen die jeweiligen Gespräche stattfanden. In den Gesprächen selbst erlaubt er einem durch eine sehr strukturierte Gesprächsführung die Gedanken Kagarlitzkis nachvollziehen zu können. Es ist gerade dieser Wechsel, der einen fesselt: Auf sich überschlagende Ereignisse folgt jemand, der sich die Zeit nimmt, diese mal von allen Seiten zu beleuchten. So bleibt man dran.

Klug stellt Ehlers das aktuellste Gespräch voran und räumt zugleich mit einem großen Missverständnis auf: Es gab nie einen großen Plan der politischen Führung. „Nun, was Perestroika ist, weiß keiner“, fasst Kagarlitzki zusammen. Vielmehr sei alles eine einzige Dauerschleife aus Reaktionen auf Reaktionen gewesen. Es wird ein Russland umschrieben, welches sich im permanenten Struktur-Diskurs befand, in dem es keine Akzeptanz der buchstäblichen Verfassung gab. Es ging um den puren Machterhalt und den Versuch, Missstände möglichst klein zu halten. Am Ende fand kein Ausbalancieren von sozialen Unterschieden statt, sondern eher ein Kampf, morgen noch zu den Gewinnern zu gehören.

Verkannte Gefahren

Dabei wollte Gorbatschow ursprünglich nur die ins Stocken geratene Wirtschaftlichkeit auf neue Füße stellen. Dazu ließ er Schritt für Schritt auch private Unternehmen zu. Es sollte ein freier Markt entstehen. Ein paar Schritte zurückgehen, um aus der Sackgasse zu kommen und dann einen funktionierenden Sozialismus aufzubauen, das war das Ziel. Doch statt mehr Sozialismus gab es nur immer mehr Kapitalismus – von oben eingeführt. Jedoch fehlten die Erfahrungen mit einem freien Markt, sodass auch niemand um die Gefahren wusste, die mitunter schon allein deshalb nicht erkannt wurden, weil sie niemand für möglich gehalten hatte.

Auch Kagarlitzki vermochte anfangs noch nicht alles erkennen als er feststellte, dass zwar eine wachsende Dienstleistungsbranche um die Neureichen herum entstehe, sich aber gleichzeitig fragte, wie viele Datschen und „Mercedesse“ ein Mensch kaufen könne –  er dokumentiert, dass er wie viele noch nicht verstanden hat, dass es das Gefühl, endlich genug Geld zu haben, schlichtweg nicht gibt. Das berühmte Phänomen tauchte auf, dass der freie Markt des Westen gerade im Volk umso beliebter war, desto weniger man ihn wirklich kannte. Doch wie viele, lernt Kagarlitzki schnell, dass die Perestroika einen beispiellosen Umverteilungskampf auslöste.

Radikaler Kapitalismus

Denn der freie Markt mit seinem Kapital will sich vermehren und schnell fallen Löhne in den Keller und steigen Preise. Gleichzeitig bleibt die nun erforderliche Steigerung der Arbeitskraft aus. „Wir wollen, daß in den Geschäften alles zu haben sein soll. Aber wir wollen nicht arbeiten wie im Westen“, schreibt Kagarlitzki. Das schwächt auch die Kampfmoral. Wo der Westen annimmt, dass in Russland die Massen anscheinend endlich befriedigt und dankbar im Kapitalismus angekommen seien, unterstreicht Kagarlitzki vielmehr eine geschwächte Kampfmoral. Er erzählt von Menschen, die nun zwei Jobs haben und insgesamt die Hälfte verdienen wie vorher. Ein Prekariat entsteht und mit ihm das Erschöpfen der Kampfesmoral.

So verkommt auch der politische Wettstreit um Ideen zu einem populistischen Kampf um Köpfe. In seiner ihm unterstellten Planlosigkeit untergräbt Gorbatschow die proklamierte Öffnung, bekämpft vor allem die Linke, unterstellt ihr den seit Lenin hochgradig verpönten Linksradikalismus. Auch in der Bevölkerung werden Gewerkschaften und sozialistische Ideen als Elemente von damals erachtet. Man darf dabei nicht unterschlagen, dass das neue Russland gerade von fast denselben Leuten in den Sand gefahren wird, die vorher an der Macht waren. Ein Austausch der Elite fand nie wirklich statt. Aus purem Machterhalt wurden sie selbst zu den neuen Eigentümern, was außer ihnen auch niemand sonst hätte werden können. Letztlich war die KPdSU schon längst keine funktionierende Partei mehr, vielmehr ein bürokratisches Sammelbecken, in dem es mehr Marktliberale und Nationalisten als Kommunisten gab, wie Kagarlitzki umschreibt. Stehlen und Privatisieren wurden Synonyme. Es entstehen Monopole, der fehlende Wettbewerb lähmt das Wachstum und treibt die Preise. Auch der IWF engagierte sich mittlerweile im Land sehr.

Sich ähnelnde Krisen

So entsteht ein gefährlicher Cocktail aus dem Nicht-Wollen des Bisherigen und dem Nicht-Wissen um das Kommende. Jelzin nutzt das aus, verbündet sich auch mit Rechten. In den großen Tageszeitungen werden Staatsmodelle nach den Mustern Pinochets oder Mussolinis als ernsthafte Alternativen vorgestellt. Nach gelungenem Staatsstreich regiert Jelzin fast wie ein Zar, mehrfach unterstellt Kagarlitzki ihm faschistisches Agieren. Die Marktreformen können offenbar nur noch durch repressive Maßnahmen durchgesetzt werden. Das System wird unberechenbarer, als es die SU je war. Das trifft dann auch Kagarlitzki selbst, der am Schluss des ersten Bandes beschreibt, wie er erstmals nicht mehr von seinem Engagement leben kann, sich eine Fahrt zu einem Kongress nicht leisten kann. Er hat noch immer Ideen, was zu tun sei, aber man muss wohl auf den zweiten Band warten, um zu erfahren, was daraus wurde.

Dennoch ist allein dieser erste Band für uns heute enorm wichtig. Er räumt auf mit der westlichen Glorifizierung Gorbatschows und Jelzins und lässt erahnen, welches Russland mit welcher Vielzahl an Problemen sie ihren Nachfolgern hinterließen. „Die Besonderheit des Jelzinschen Regimes besteht darin, daß es die allgemeine Krise in eine Katastrophe verwandelt hat“, bescheinigt Kagarlitzki. Und auch viele Parallelen zum derzeitigen Umbruch in der Ukraine sind kaum zu übersehen. Auch hier wurden vor allem das IWF mitsamt EU-Troika schnell aktiv. Man muss kein Marxist sein, aber man sollte sich der Analyse Kagarlitzkis annehmen, um auch die aktuellen Konflikte besser zu verstehen.

Der Autor ist Mitglied im Vorstand der Berliner Freunde der Völker Russlands e.V.

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