21 Jahre Tschernobyl – Lehren aus dem Super-Gau

Seit der Explosion des vierten Reaktors am 26. April 1986 ist Tschernobyl das Synonym für die größte technische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die dabei entstandene radioaktive Wolke hat viele Menschen das Leben gekostet, viele Schicksale verkrüppelt, immense materielle Schäden sowie eine nukleare Belastung großer Territorien verursacht.

Spuren der Explosion am Ufer des Flusses Pripjat, wo Tschernobyl steht, wurden später auf Teeplantagen hinter der Kaukasischen Gebirgskette, in Kalifornien und sogar im Antarktis-Eis festgestellt. Am stärksten wurde aber Europa betroffen: Der radioaktive Staub ging in Polen, Bulgarien, Deutschland, Schweden, der Schweiz, Österreich, Belgien, Holland, England und anderen Ländern nieder.

Die Schuldfrage dürfte längst erschöpft sein, dennoch wird sie immer wieder gestellt.

„Was kann hier nicht klar sein? Die für die Atomenergie und die Strahlungssicherheit zuständigen Behörden, aber auch die IAEO, haben ihre Schlüsse daraus gezogen“, stellt Alexander Borowoi, Professor des Russischen Forschungszentrums „Kurtschatow-Institut“, das eine Wissenschaftlergruppe in Tschernobyl geleitet hat, in einem RIA-Novosti-Gespräch fest. „Einen Gerichtsprozess hat es auch gegeben. Journalisten fragen mich bis zum heutigen Tag danach, ich will aber diese Frage nicht beantworten, weil dahinter die Aufforderung steckt, die Menschen anzuprangern, die durch die Hölle gehen und einen grausamen Tod sterben mussten. Ich bin nicht befugt, meine inzwischen toten Lehrer zu verurteilen, die Atomenergie und Atomwaffen für unser Land geschaffen haben. Für mich ist nur eines wichtig: Wurde alles getan, damit sich Tschernobyl nicht mehr wiederholt? Ich denke – ja.“

Seit dem Tag der Tragödie wurde Tschernobyl in den vergangenen 21 Jahren in der Tat von Tausenden Experten aus vielen Ländern besucht. Sie haben den Ablauf der Tragödie sorgfältig rekonstruiert und gemeinsam ihre Schlüsse daraus gezogen. Dennoch ist eine Gruppe von Menschen entstanden, die all das in Zweifel zieht und immer neue, ausgeklügelte Versionen des Unglücks erstellt.

So sprechen einige von „Umtrieben des KGB, das Angst vor der Perestroika hatte“, oder von einer Explosion von Plutonium, das im Unglücksreaktor heimlich vom Personal (!) verursacht wurde. Als mögliche Ursachen wurden ein Erdbeben und sogar ein Terrorakt genannt. Laut einer anderen genauso unglaublichen Version wurde „die Psyche der diensthabenden AKW-Schicht von einer starken Strahlung aus der in der Nähe gelegenen Raketenabwehreinrichtung beeinflusst“.

Es war jedoch viel simpler. Am Vortag der Tragödie hatte eine Dispatcherin aus Kiew beim AKW Tschernobyl angerufen und gefordert, die Verringerung der Leistung des vierten Reaktors zu stoppen und dessen Tests, die im Grunde bereits begonnen hatten, einzustellen. Natürlich sprach sie im Namen ihrer Chefs. Die AKW-Ingenieure fügten sich wider Willen dieser Anweisung. Der Reaktor arbeitete danach noch neun Stunden unter gefährlichen Bedingungen und reagierte schließlich mit einer Explosion auf die unzulässigen Handlungen des Personals.

Nach dem Unglück gilt die Wortkombination „Typ Tschernobyl-Reaktor“ als ein Synonym für tödliche Gefahr und technische Unzuverlässigkeit. Experten behaupten indes, dass die Wahrscheinlichkeit einer technisch bedingten Havarie verschwindend gering war.

Die wohl einzige „Schwachstelle“ des Reaktors bestand wohl darin, dass der „Faktor Mensch“ unzureichend berücksichtigt wurde. Dem Operator wurde die Möglichkeit geboten, sich ins Arbeitsprogramm einzumischen – in der Annahme, dass der zuständige Experte zu einem fatalen Fehler einfach nicht fähig ist. (In der modernisierten Variante des Reaktors ist dieser Konstruktionsfehler beseitigt.)

Weder der Direktor noch der Chefingenieur des AKW Tschernobyl kannten jedoch die Physik eines Atomreaktors. Zwei Jahre vor der Tragödie hatten die Regierungsbeamten die Atomkraftwerke aus dem System des Nuklearkomplexes ausgeschlossen und dem Ministerium für Elektrifizierung unterstellt. Damit wurde die Tragödie möglich gemacht.

Der Schutzsarkophag über dem zerstörten Reaktorblock löst indessen immer mehr Besorgnisse in Bezug auf eine mögliche Kettenreaktion aus: Unter der Hülle, die die Höhe eines 25-stöckigen Hauses hat, stecken 180 Tonnen Spaltstoff.

Diese Hülle war von Anfang an unzuverlässig: Die hohe Strahlung ließ die Bauarbeiter nicht in unmittelbarer Nähe arbeiten. Als Folge entstanden viele Defekte: Die Gesamtfläche der Spalten und Ritze beträgt rund 1 000 Quadratmeter. Durch diese kam der Plutoniumstaub heraus. Außerdem stützt sich die Konstruktion des Sarkophags auf die Wände des zerstörten Reaktorblocks, was zusätzliche Zweifel an ihrer Festigkeit entstehen lässt.

Erst zehn Jahre nach der Tragödie gelang es, den speziellen Fonds „Ukrytije“ für die Errichtung eines neuen Sarkophags zu gründen. Die westlichen Länder erklärten sich bereit, die notwendige Summe von einer Milliarde Dollar auf das Konto dieser Stiftung zu überweisen. Laut dem Projekt soll die neue Schutzeinrichtung die Trümmer des vierten Reaktors für 100 Jahre zuverlässig von der Außenwelt isolieren. Dies wird eines der traurigsten und lehrreichen Denkmäler auf der Erde sein.

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