100 Jahre Revolution – Russland tut sich schwer mit dem Jubiläum

Das Jubiläum der Revolutionen von 1917 fehlt im russischen kulturellen Kontext fast völlig. Warum das so ist, beschreibt die Oppositionszeitung „Republic“.

„Drei große Ausstellungen in den größten Museen und ein paar andere in kleineren Sälen. Öffentliche Diskussionen und Konferenzen. In jedem Buchladen ein ganzes Regal mit thematischen Büchern: ein solider Band zur 300-jährigen Geschichte von Sr. Petersburg, eine von einem bekannten SF-Autor verfasste Chronik des Oktober 1917, neue Biografien über Lenin und die Romanows, sogar eine Sonderabhandlung über den versiegelten Waggon, in dem der Führer der Revolution aus der Schweiz nach Petersburg fuhr. Man sieht sofort – die Stadt lebt mit dem Jubiläum der Revolution; es ist ein Ereignis, das alle interessiert.

Genau so sieht das Jahr 2017 in London aus. Unschwer zu erkennen, dass sowohl in Moskau als auch in Petersburg nichts dergleichen geschieht: Das Jubiläum der zwei Revolutionen fehlt in der russischen Kulturlandschaft völlig; gäbe es da nicht das Online-Projekt „1917“ von Michail Sygar und die von Lew Danilkin geschriebene neue Lenin-Biografie, könnte man denken, die Bürger Russlands würden mit speziellen Strahlen bearbeitet, die sie daran hindern, sich überhaupt an die Revolution zu erinnern. Und wären es nur Bücher und Ausstellungen – gerade von der heutigen Staatsmacht mit ihrer übersteigerten Aufmerksamkeit für die „richtige Interpretation der Geschichte“ wäre es logisch, Äußerungen über die Rolle und den Platz des Oktober 1917 zu hören. Wenigstens irgendeine. Aber es gibt sie nicht.

Dafür wird um den Film „Matilda“ gestritten, und das immer heftiger, was die Expertengemeinschaft in Ratlosigkeit versetzt – ist das die Folge der privaten Manie einer Abgeordneten? Oder zeugt es von der Spaltung der Eliten? Oder ist es eine raffinierte Polittechnologie mit Aussicht auf den Wahlkampf? Wir riskieren die Vermutung, dass es weder das eine noch das andere ist. Nein, genau das ist sie, die Äußerung der Staatsmacht zum Thema Revolution.

Im Film „Matilda“ selbst gibt es – nach der Vorschau zu schließen – nichts Provokatives oder Strittiges, das ist ein Streifen, der bewusst auf den Massenzuschauer ausgerichtet ist. Es ist eine in traditioneller Sprache gehaltene romantische Geschichte über das Russland, das wir verloren haben: Zar, Ballett, Liebe, vergoldeter Stuck, knuspriges Baguette – all das, was den Leuten so gefällt. Normalerweise wäre die Diskussion um den Film in der Fernsehsendung „Sollen sie doch reden“ oder auf den Seiten der Zeitung „Antenna-Telesem“ gelaufen. Aber hier – mit gewiefter Absicht oder aus einem Herzensbedürfnis heraus – hat sich die ehemalige Staatsanwältin der Krim eingemischt und das Spiel gedreht.

Und das kam allen zurecht. Ungeachtet des Hitzegrades der aufkochenden Leidenschaften gibt es keinen Zweifel, dass „Matilda“ in den Kinos ohne Zwischenfälle gezeigt wird und die meisten Zuschauer das bekommen, was ihnen gefällt – eine schöne Geschichte über den Zar und die Liebe. Die Anhänger von Poklonskaja, deren Zahl mit jedem Tag wächst (warten wir noch, wann sich Chirurg und der Gouverneur des Gebietes Orenburg melden), bekommen das, was ihnen in den letzten Monaten so sehr gefehlt hat, als der Kampf gegen die Ukrofaschisten und die Nationalverräter im Sande verlief – ein neues Objekt für den Kult, einen neuen Widerstandspunkt, einen neuen Vorwand für die verletzten Gefühle.

Alles zusammen schafft eine Situation, in der drei Monate vor dem Jubiläum der Revolution von dem gesamten Komplex an Fragen, die mit ihr zusammenhängen – ist ein Volksaufstand zulässig und worin liegt, wenn er unausweichlich wird, die Schuld der Eliten; worin lag die taktische Stärke der Bolschewiki; hat es in dem frühsowjetischen Projekt einen gesunden Kern gegeben und wenn ja, rechtfertigt er die Bestialitäten der neuen Staatsmacht; was soll mit den Denkmälern für die Autoren dieser Bestialitäten und mit den nach ihnen benannten Straßen geschehen; wie hat das Ganze den Gang der Geschichte verändert – also, aus dem gesamten Fragenkreis wird nur eines umfassend diskutiert, nämlich: Darf man im Kino zeigen, dass der Zar ein Verhältnis mit einer Frau hatte?

Es ist zu vermuten, dass sich die Geschichte noch weiter hinzieht, nämlich so, dass die Ermordung der Zarenfamilie zum Hauptereignis des Jubiläums der beiden Revolutionen gemacht wird. Unabhängig davon, ob die von Alexej Wenediktow vorhergesagte Anerkennung der Gebeine der Zarenfamilie durch die Kirche passiert, ist das ein idealer Fixpunkt, der der neuen russischen Mythologie so sehr fehlt.

Darin gibt es bereits den Großen Kampf von Gut und Böse, der sich unter dem Schutz der Geschichte wieder und wieder entfaltet – so, dass sich jeder beliebige politische Konflikt in einen Kampf gegen die Faschisten und ihre Helfershelfer verwandelt; jetzt könnte der Mythos vom Sühneopfer hinzukommen, der Moment des Triumphes des absoluten Bösen, das mit Demut und Heiligkeit überwunden wird. Dieses Ereignis wirft einen Schatten zurück und rechtfertigt alle Fehler und Schwächen der Romanows; und es wirft einen Schatten voraus und zeigt, wozu Rebellionen, Aufstände und Angriffe auf die oberste Macht führen.

Der Große Vaterländische – das ist das, was wir „wiederholen können“; der Zarenmord aber das, was sich nicht wiederholen darf. Die Oktoberrevolution als kleines historisches Ereignis in der Vita des Heiligen Märtyrer-Kaisers; die Bolschewiki als Agenten des weltweiten Bösen (und der westlichen Geheimdienste), die ein Ritualopfer brachten; die heutigen Teilnehmer an Protesten als ihre historischen Erben, die bereit sind, das Land ins Chaos zu stürzen.

Würde es „Matilda“ nicht geben, müsste man sie erfinden.“

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